Auf der Fahrt über die Grenzlinie klappt Ostberliner Nummer auf Westkennzeichen um
von hpf
Wegen mehrfach versuchter Republikflucht und staatsfeindlicher Hetze war ich 1975 in der damaligen DDR zu insgesamt fünf Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt, die ich im Zuchthaus Brandenburg-Göhrden absitzen sollte. Dort stellte ich 1976 einen Ausreiseantrag in den Westen – alles in fünffacher Ausfertigung: Antrag, Begründung, Lebenslauf – auf liniertes DIN-A-4-Papier mit Bleistift geschrieben, in einer kaum mehr als 20-Quadratmeter großen Neun-Mann-Zelle, ganz oben auf einem dreistöckigen wackligen Eisenbett hockend, um vor den anderen meine Ruhe zu haben und mich konzentrieren zu können. Blaupapier zum Durchpausen hatte ich nicht. Also musste ich alles fünfmal abschreiben. Ich protestierteoft lautstark vor den Bewachern und verweigerte die Arbeit, weil ich für einen Staat, der seine Kritiker einsperrt und foltert, keinen Handschlag mehr machen wollte. An Tagen wie dem 7. Oktober ("Tag der Republik") oder dem 17. Juni verweigerte ich aus Protest jegliches Essen. Zweimal kam ich für jeweils 21 Tage in den Arrest - die "Esse", wie es im Knastjargon hieß.
Das bedeutete: Dunkle Einzelhaft im Arrestkeller. Am Tag nur 15 Minuten frische Luft schnappen beim Freigang. Schlafen auf einer eiskalten Betonpritsche. Zum Zudecken gab einem das Wachpersonal zur Nacht für acht Stunden eine Decke in die Zelle. Pro Tag bekam man drei Scheiben trockenes Brot und einen halben Liter warmer an Malzkaffee erinnernde Flüssigkeit. Nur alle drei Tage gab es einen "Schlag" warme Suppe. Die Notdurft musste man in der Arrestzelle auf einem zur Desinfektion gekalkten Kübel verrichten, auf dem man sich unangenehm brennenden Ausschlag im Genitalbereich zuzog. Der Witz: Während man auf der normalen Gefängniszelle Zeitungspapier zum Hinternputzen nehmen musste, bekam man hier echtes Toilettenpapier. Man hätte sich ja sonst bei dem wenigstens tagsüber herrschenden "schummrigen Licht" die Zeit mit Zeitungsschnipsel lesen vertreiben können... Duschen durfte man einmal in der Woche. Aber wehe, man hatte sich mit den Wächtern auch nur verbal "angelegt". Dann wurde man allein in den Duschraum geführt. Man musste sich nackt ausziehen und wurde mit Hand- und Fußfesseln "fixiert". Die Dusche wurde eiskalt aufgedreht. Man wurde darunter gestoßen und mit nassen Handtüchern geprügelt. Das tat zwar Hieb für Hieb "arschweh", es blieben aber keine "verräterischen" Striemen der Prozedur am Körper zurück...
Gut anderthalb Jahre später zog ich den Antrag zurück, weil mich etliche - wie ich heute weiß - extra auf mich angesetzte Mithäftlinge (allesamt wegen kriminellen Delikten einsitzend) über Monate psychisch und physisch misshandelten und verprügelten, dass ich vor lauter Angst die Flucht nach vorn antrat. Ich wollte nur noch weg von diesen "Leuten" von der sogenannten Nichtarbeiterstation, woanders hin verlegt werden. Ich meldete mich nach fast einjähriger Verweigerung der Zwangsarbeit sogar wieder zur Arbeitsverrichtung, vermied weitere verbale politische Angriffe gegen das von mir gehasste SED-Regime und den Stasi-Terror. Weil ich keinerlei Kraft mehr hatte, weitere psychische oder physische Attacken gewalttätiger Mitgefangener zu ertragen, auch keine Kraft mehr für eigenen Widerstand. Und man ließ mich plötzlich in Ruhe…
Dann geschah im Juli 1977 ein unerklärbares Wunder. Ich wurde morgens von der Arbeit geholt – einer in einem Kellertrakt untergebrachten Schlosserei – und musste meine Sachen packen. Im Flur des Hauses III stand schon eine Reihe bekannter Gefangener, auch ein wegen Fluchthilfe zu etlichen Jahren verurteilter Westberliner, Uwe. Er rief mir nur zu: „Peter, nun geht es nach Hause!“ Wir bekamen in der Effektenkammer unsere bei der „Knasteinfuhr“ abgenommene Zivilkleidung und persönlichen Gegenstände wie Armbanduhren usw. zurück – allerdings in einem Paket, auf dem als neue Adresse „Strafvollzugsanstalt Berlin“ stand. Also doch nicht „nach Hause“ sondern in einen anderen DDR-Knast? Wir waren mittlerweile eine Gruppe von 25 Gefangenen, alle mit politischem „Delikt“. Wir wurden ins Freie geführt. Vor uns lag nur noch der Schleusenkomplex mit dem Zuchthaustor ins Freie. Wir mussten in eine grau gestrichene „Minna“ W 50 einsteigen. Es ging auf Transport. Die Stasi holte uns ab.
Und es ging zunächst, wie wir aus dem „Gefangenen-Aufbau“ mit einem Blick durch ein schmales Fenster nach vorne in das Fahrerhaus ausmachten, von Brandenburg auf die Landstraße durch den Fläming nach Belzig. Dann weiter auf die Autobahn Richtung Halle-Leipzig, dort auf die Autobahn weiter nach Dresden. Als die Minna den befürchteten Weg zum Zuchthaus Waldheim nicht einschlug, war für fast alle Gefangenen aus unserem Tross klar: Es geht in den Stasi-Knast von „Kalle-Malle“ (dem damaligen Karl-Marx-Stadt und heute wieder Chemnitz), von dem wir wussten, dass von dort aus die Transporte vom Westen freigekaufter politischer DDR-Häftlinge in die Bundesrepublik abgingen. Alle brachen in Jubel aus. Nur ich hielt mich zurück, da ich doch meinen Ausreiseantrag in den Westen zurückgezogen hatte.
In Kalle-Malle im Stasi-Gefängnis auf dem Kaßberg angekommen, mussten wir zuerst unsere „Maikäfer-Uniformen“ ausziehen, wie wir die dunkle Strafvollzugsbekleidung mit den gelben Streifen nannten. Wir bekamen jene hellgrünen Anzüge, die jeder von uns schon aus seiner Untersuchungshaft bei der Stasi kannte. Und sogleich erfolgte ein erster „amtlicher“ Befragungstermin. Auch mir wurde von Staatssicherheitsoffizieren die Frage gestellt, ob ich meinen „Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“ aufrecht erhalte und in den Westen ausreisen wolle. So konkret gefragt, begriff ich, dass ich bald frei sein konnte und bekräftigte mit einem lauten „Jawoll“. Dann kam der Arzttermin, bei dem jeder gefragt wurde, ob er eine längere Busreise gesundheitlich durchhalten könne und ob er Medikamente benötige. Schließlich mussten wir für unsere letzten Wertgutscheine einkaufen, die wir anstelle von Geld im Knast für unsere Arbeit bekommen hatten - monatlich bis zu 40 Ostmark, die aber meist für Tabak oder ein halbes Pfund Extra-Butter draufgingen.
Am Mittwoch, 3. August, 1977 kam auch für uns der Abreisetag in die Freiheit. Morgens tauschten wir endgültig die Gefangenenuniform gegen unsere Zivilkleidung. Wir mussten nochmals zu einem „Amtstermin“. Bei diesem wurde mir eröffnet, dass meine Strafe per Gerichtsbeschluss zur Bewährung ausgesetzt werde. Und in jenem Beschluss, dessen Kenntnisnahme ich per Unterschrift quittieren musste, stand: Ich hätte durch mein Verhalten im DDR-Strafvollzug gezeigt, dass ich künftig nicht mehr gegen DDR-Gesetze verstoßen werde; und ich sei deshalb freizulassen. Und wörtlich: „Als neuer Wohnsitz wird BRD bestimmt“. Dann Aushändigung der Entlassungsurkunde aus der DDR-Bürgerschaft und des Entlassungsscheines aus dem Knast. Nach einem Graupen-Eintopf ertönte ein letztes Mal das Kommando „Raustreten“. Abmarsch auf den Knasthof.
Dort standen zwei Busse des westdeutschen Typs MAN. Wir wurden mit Namen aufgerufen, mussten mit unserem Geburtsdatum und der Gefangenennummer antworten, bevor wir einsteigen konnten. Im Bus noch auf Stasigelände redeten Ostanwalt Wolfgang Vogel und sein Westkollege Stange. Vogel appellierte, nichts über unsere Freikaufaktion im Westen Presse und Fernsehen zu erzählen: „Wir wollen auf diesem humanitären Weg noch mehr Menschen den Weg in die Freiheit eröffnen.“ Und Stange: „Wenn sich unter Ihnen Leute befinden, die andere an die Stasi verraten oder misshandelt haben, dann sagen Sie das bitte offen im Notaufnahmelager in Gießen.“ Und im Bus fanden wir etliche Reiseprospekte von Reinhardts Reisen aus Hanau - von Ländern, Orten und Sehenswürdigkeiten, die wir vielleicht nun auch bald sehen und erleben werden... Dann setzte sich der Konvoi der beiden Omnibusse mit rund 80 Gefangenen, die in Brandenburg, Bautzen, Hoheneck oder Cottbus gesessen hatten, in Bewegung. Vorbei an einem Postenturm, auf dem ein Stasi-Feldwebel mit Kalaschnikow im Arm mürrisch aus dem Fenster glotzte. War er neidisch? Wir winkten aus den Bussen zum "Abschied" nach dem Motto "Auf Nimmerwiedersehn"...
Über die Autobahn ging es an Jena und Eisenach vorbei zum innerdeutschen Grenzübergang Wartha/Herleshausen. Unterwegs fielen uns Westwagen auf, die "unauffällig" an Autobahn-Auf- und Abfahrten oder an Rastplätzen für unseren Konvoi "Spalier standen" - vermutlich Stasi-Besatzungen. Am Grenzübergang stieg die Stasi-Eskort-Truppe aus den Bussen aus. Ohne jegliche Personenkontrollen fuhren beide Busse über die Demarkationslinie. Die Ostberliner Kennzeichen an den beiden Fahrzeugen klappten automatisch um auf eine westdeutsche Autonummer, eine Hanauer. Die Busse stoppten. Mit Verpflegungsbeuteln und frischem Obst wurden wir auf westdeutscher Grenzseite von einer Abordnung des Innerdeutschen Bundesministeriums begrüßt. Wir - unter den Freigekauften auch etliche Frauen - umarmten uns vor Freude. Einige küssten unter Tränen sogar das Gras zu ihren Füßen… So bin auch ich unverhofft schon nach zwei Jahre und sieben Monate freigekommen.