Westalgie - die Sehnsucht der westdeutschen Mittelschicht nach der alten BRD
Verfasst: 29. Februar 2012, 08:48
Deutschland hat die besten Jahre hinter sich
Stetig abwärts, besser wird's nicht mehr. Offenbar hat sich die Mitte in dem Gefühl eingeigelt, dass ihre guten Zeiten vorbei sind und dass im Umkehrschluss früher alles besser war. Zwei Drittel der Westdeutschen sagten schon vor zwei Jahren, Deutschlands beste Zeit sei die vor 1990 gewesen.
Tatsächlich gab es in den 80ern viele Themen nicht, mit denen man sich heute auseinandersetzen muss. Der Systemwettbewerb mit dem Ostblock zügelte die Marktwirtschaft im Westen. Die Renten waren höher, kamen früher. Die nationalsozialistische Vergangenheit zog noch als Argument dafür, dass kein deutscher Soldat seinen Fuß in Gegenden jenseits der Grenzen setzen konnte. Die Welt war ordentlich und berechenbar.
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Unmut über die Gegenwart wächst
Sicher, Globalisierung und elektronische Revolution der vergangenen 30 Jahre sind eine Zeitenwende. Aber in Deutschland kommt noch etwas hinzu, das die Unsicherheit verstärkt: das verdrängte Ende der alten Bundesrepublik.
Denn der Unmut über die Gegenwart wächst, fast unbemerkt, seit der Wiedervereinigung. Lebhaft debattiert wurde die Ostalgie, die Sehnsucht der Ostdeutschen nach ihrem untergegangenen Staat. Aber der Mauerfall beendete eben nicht nur die realsozialistische Spießerdiktatur, sondern auch die „BRD“. Kaum jemand sagte das je laut.
So kommt es, dass all die kapitalismuskritischen „Forderungen“ dieser Tage kaum Forderungen sind. Vielmehr werden sich Dinge weggewünscht: Weg mit Hartz, weg mit der Rente mit 67, mit der Bundeswehr in Afghanistan, mit dem Euro, weg mit den „Spekulanten“.
Mehrheit wollte nicht ein anderes Land
Auch die „Occupy“-Gruppe nimmt im Grunde nur diesen Faden auf. Die Bewegung der Mittelschichtkinder des alten Westens will in erster Linie entfernen, was seit den 80ern das Leben verkompliziert hat.
Im Kern entspricht das dem Selbstverständnis von Nach-Wende-Deutschland. Helmut Kohl sprach von „blühenden Landschaften“ im Osten – über den Westen sagte er wenig. Und als Gerhard Schröder 1998 Kanzler wurde, wünschte sich die Mehrheit der Menschen zwar eine andere Politik, gleichsam modernere Umgangsformen.
Aber was sie nicht wollte, war ein anderes Land. Erst als Schröder mit der Agenda 2010 ernst machte, dämmerte der Neuen Mitte, dass die Wiederherstellung des alten Status quo nicht auf dem Programm stand. Dafür wandte sie sich vom Reformkanzler ab.
http://www.welt.de/kultur/article138936 ... r-BRD.html