Drüben war es leichter
Der Staatssekretär im Bildungsministerium der DDR, Siegfried Schwanke, stellte seinem Schulsystem eine Zensur aus: ungenügend.
Die Reifeprüfung, vertraute er dem bayerischen Kultusminister Hans Zehetmair (CSU) an, sei mit dem westdeutschen Abitur überhaupt nicht vergleichbar.
Die Leistungen seien meist schlecht, die Noten "übertrieben hoch" und eigentlich "nicht viel wert". In der DDR werden, bestätigt Dieter Hass, Rektor der Ost-Berliner Humboldt-Universität, Abiturienten zumeist eine Note besser zensiert als im Westen.
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Die aber haben, trotz meist schlechterer Leistungen, weit bessere Chancen dank ihrer guten Noten.
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Die Schulminister der Länder haben deshalb im vorigen Monat eine Arbeitsgruppe "Anerkennung und Bewertung schulischer Abschlüsse aus der DDR" eingerichtet. An Abwehrkonzepten wird gebastelt. Zehetmair: "Da muß dringend etwas geschehen." Die meisten westdeutschen Abiturienten hätten "im Numerus-clausus-Vergleich kaum Chancen".
Bei der Auswertung von 665 Zeugnisnoten von DDR-Abiturienten errechnete die Dortmunder Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) einen Notendurchschnitt von 1,58. Rund 50 Prozent der Bewerber hatten sogar zwischen 1,0 und 1,4 eingeheimst. Auffallend sei, so eine Expertise der westdeutschen Kultusministerkonferenz (KMK), das "hohe Plateau von Zeugnissen mit der Durchschnittsnote 1,0". Nicht mal ein Prozent hatte schlechter als befriedigend abgeschnitten.
Kein Vergleich mit dem bundesdeutschen Notenschnitt: In Hessen liegt er bei 2,40, in Bayern bei 2,42 und in Berlin bei 2,70.
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Begabter als westdeutsche Schüler sind DDR-Pennäler wohl kaum. Der real existierende Sozialismus hat, wie alle Zahlen, auch die Noten geschönt. Schlechte Zensuren wurden oft dem Lehrer als Kunstfehler angelastet. Pauker korrigierten die Noten serienweise nach oben, um auf einen besseren Klassendurchschnitt zu kommen. Die Sprößlinge der Nomenklatura mußten besonders bedacht werden: 60 bis 80 Prozent aller Funktionärskinder schafften unabhängig von der Leistung das Abitur.
"Drüben war es viel leichter, eine gute Zensur zu bekommen", bestätigt Christopher, 18, der von der Wilhelm-Pieck-Schule in Hagenow auf das Friedrich-Ebert-Gymnasium in Hamburg-Harburg gewechselt ist. Der Schüler über seine DDR-Ausbildung: "Man mußte alles nur auswendig lernen."
Imke, 20, aus Wismar, die nun am Hamburger Bondenwald-Gymnasium lernt, hat die Folgen bereits zu spüren bekommen: In der DDR hatte sie einen Notendurchschnitt von 1,0, in der Bundesrepublik sei sie nun "auf 1,5 abgerutscht".
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