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SPIEGEL: Herr Tiedge, um Ihre Flucht ranken sich bis heute Legenden . . .
Tiedge: . . . o ja, die dollsten Geschichten . . .
SPIEGEL: . . . mal sind Sie durch einen Tunnel über die Grenze geschleust, dann als Diplomatengepäck nach Ost-Berlin geschickt worden. Ihre Spur verliert sich am 18. August 1985 um 16.41 Uhr an einer Straßenbahnhaltestelle in Köln-Merheim. Können Sie uns erzählen, wie es weiterging?
Tiedge: Ich war vorher in meiner Stammkneipe und habe Skat gespielt. Mit der Straßenbahn bin ich zum Hauptbahnhof und von dort nach Hannover gefahren.
SPIEGEL: Aber Sie waren doch blank.
Tiedge: Die Reise hat das BfV bezahlt. Wir hatten Blanko-Freifahrscheine erster Klasse. In Hannover habe ich es mit der Angst bekommen, der Zug könnte besonders kontrolliert werden. Ich dachte, was machst du denn hier bloß, nimm lieber alles auf dich und geh zurück ins Amt. Ich habe die Nacht auf dem Bahnhof verbracht und bin am anderen Morgen Richtung Köln gefahren. Kurz vor Düsseldorf ging ich auf die Zugtoilette, um mich ein bißchen frisch zu machen. Da sah ich mein Bild im Spiegel, bekleckert, unrasiert, so wäre ich trotz meines Dienstausweises nicht einmal beim BfV reingekommen. Vom Bahnsteig in Köln habe ich meine Sekretärin angerufen und mich krank gemeldet. Fünf Minuten später saß ich wieder im Gegenzug und fuhr bis Helmstedt. Um 14.02 Uhr hatte ich Anschluß nach Berlin.
SPIEGEL: Viele von den Grenzschutzbeamten auf dem Bahnsteig kannten Sie doch von Vorträgen und Schulungen persönlich.
Tiedge: Natürlich, die haben mich sehr beunruhigt. Aber ich, als BfV-Gruppenleiter für DDR-Dienste, Chef von 4 Referaten mit 100 Mitarbeitern, hatte keine Vorstellung davon, wie auf der Westseite kontrolliert wird. Die schlimmsten Sekunden waren die letzten Kilometer vor der Grenze. Ich sah den Zaun, die Soldaten, beinahe hätte ich die Notbremse gezogen. Und dann hielt der Zug in Marienborn.
SPIEGEL: Hansjoachim Tiedge war drüben.
Tiedge: Ich war drüben. Ich ging in den Abfertigungsraum und sagte zu dem diensthabenden Hauptmann, meinetwegen werden Sie wohl den Dienststellenleiter holen müssen. Dabei schob ich den Reisepaß auf den Namen Tappert und den Dienstausweis auf den Namen Tiedge über den Tisch.
Der Mann brummte und fragte, was ich wollte, und ich antwortete: überlaufen. Er sagte: "Das ist doch schon was." Nach einer Stunde schleppte ein Soldat einen Sessel, Bier und Brötchen herein. Die Behandlung wurde freundlicher. Da wußte ich, daß die Nachricht bei den richtigen Leuten angekommen war.
SPIEGEL: Es gab bis dahin keinen Kontakt mit der DDR, Sie waren kein Maulwurf?
Tiedge: Nein, nein, der Regierungsdirektor Tiedge war einfach am Ende und wollte ein neues Leben anfangen. Das begann in einem wunderschönen Haus der HVA in Prenden bei Berlin, in dem ich zweieinhalb Jahre gewohnt habe. In dieser Zeit gab es immer wieder Befragungen, dazwischen eine Abmagerungskur im Krankenhaus. Und ich hörte auf zu trinken.
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