Als ich ins Schloß kam, schien die Sonne. Das war nicht weiter verwunderlich, denn Franz Kafkas Roman Das Schloß spiegelte laut DDR-Lexikon von 1981 lediglich »spätbürgerliche Entfremdung und Existenzangst wider« und wurde überdies auch noch »für imperialist. Ideologien mißbraucht«. Wir aber schrieben August 1988, auch in Sachsen stand der Sozialismus noch für ein reichliches Jahr in voller Blüte, und ich war nicht K., der Landvermesser, sondern M., der zukünftige Hof- und Parkarbeiter.
Ich war 18 Jahre alt: Als Nicht-FDJler hatte man mich nicht zum Abitur zugelassen, aus einer mir zugewiesenen Lehre als Elektrotechniker flog ich nach ein paar Monaten wieder heraus, da ich die vormilitärische Lagerausbildung, die für DDR-Lehrlinge obligatorisch war, abgelehnt hatte. Mochte sich über solche politischen Abstrafungen empören, wer wollte, für die Behörden stellte ich lediglich eine Herausforderung an ihre grenzenlose Obhutspflicht dar. Man füllte einige Akten aus, sah mich hinter Hornbrillen strafend an, telefonierte etwas herum und fand schließlich ein neues Betätigungsfeld für mich: Ich war reif fürs Schloß, das heißt für eine Hilfsarbeiterstelle Lohngruppe IV - 540 Mark monatlich - im neuropsychiatrischen Fachkrankenhaus »Friedrich Wolf« in Wechselburg/Sachsen.
In Wechselburg, einem »Marktflecken« genannten Zwitter zwischen Dorf und Kleinstadt, der malerisch an dem von Industrieabfällen verseuchten Fluß Mulde lag, war ich bereits zur Schule gegangen. Das Schloß - auch als Klapse, Klapsmühle oder Irrenhaus bezeichnet - war der wichtigste Arbeitsplatzlieferant des Ortes; fast die gesamte Einwohnerschaft verdingte sich hier als Pfleger und Fahrer, Heizer und Gärtner, Krankenschwester oder Köchin. Nur die Ärzte und die Patienten stammten größtenteils von außerhalb.
Im einstöckigen Gebäude der Handwerkerbrigade, das sich gleich hinter der Schloßmauer etwas oberhalb der ehemaligen Orangerie befand, strich Meister Sepp sich eine seiner grauen Haarsträhnen aus der Stirn, gab mir die Hand und hieß mich willkommen. »Dir wird’s hier schon gefallen«, sagte er, »auch wenn unser Mitier vielleicht nicht ganz Dein Mellieu ist.« Ich nickte und stutzte. Hatte er absichtlich i und e in den beiden Wörtern vertauscht, um mich zu testen? Ich blieb mir darüber so lange im unklaren, bis ich Sepps Stellvertreter Dietmar eines Tages von Mike Oldfields Song »Moonlight Shuttle« schwärmen hörte. Er meinte »Moonlight Shadow«. Als ich ihn auf die Verwechslung aufmerksam machte, lachte er nur und winkte ab: »Du arbeitest jetzt in ‘nem Irrenhaus. Glaub’ nur nicht, daß das nicht abfärbt.«
Als Dietmar dann ein paar Tage später eine Melodie vor sich hinpfiff und mir mit somnambuler Verzückung erklärte, hierbei würde es sich um »Santanamera« von »Carlos Guantana« handeln, verzichtete ich darauf, ihn zu korrigieren.
Die vollständige Geschichte findet man hier:
http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... 11-martin/
Ja, so war es im Arbeiter- und Bauernstaat; wer gegen den Strom schwamm, konnte dann auch schon einmal unfreiwillig als Hilfsarbeiter in einer Klapse im Muldental landen.