Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Beitragvon Interessierter » 1. März 2017, 09:38

Den Lehrvertrag mit Probezeit bis 30. Juni 1951 und vielen Hinweisen auf die Vertragsinhalte überreichte der Prokurist Herr Gringer. Riedel & Grund sei die Tochterfirma der ältesten pharmazeutischen Firma in Westdeutschland, der Fa. Riedel de Hahn. Die Lehre zum Großhandelskaufmann vollziehe sich in allen Fachbereichen und natürlich auch im Handelsgeschäft. Erwartet werden nicht nur Fleiß und Interesse, sondern auch besondere Sorgfalt im Umgang mit den Arzneimitteln. In diesem Zusammenhang behalte sich die Geschäftsleitung Leibesvisitation vor. Der Besuch der Berufsschule einmal pro Woche sei Pflicht und die Arbeitszeit betrage von Montag bis Freitag 9 Stunden und am Sonnabend 6 Stunden. Außerdem sei die Teilnahme an einem Fachkursus an der Universität im Fach Pharmazie erforderlich.

Letzteres war Voraussetzung für die Weiterbildung als Apotheker. Und Entgelt gab es auch. Im 1. Ausbildungsjahr 30 DM pro Monat, im 2. Ausbildungsjahr 40 DM pro Monat und im letzten Ausbildungsjahr 55 DM . Meinem Vater musste ich 20 DM abgeben, sodass ich noch 10 DM pro Monat für mich hatte. Nicht ganz, denn das Fahrgeld zur Schule musste ich auch bezahlen. Damals 20 Pfennig für eine Fahrt. Dann der Handschlag und viel Erfolg!

Die Firma Riedel & Grund hatte neben dem Fuhrpark nicht nur ein großes Warenlager, sondern auch Lagerräume für Chemikalien und Produktionsbereiche sowie ein Labor für Giftstoffe. Hier war der Zutritt nur unter Aufsicht gestattet.

Meine ( des Autoren ) Ausbildung begann im Chemiebereich. Hier zeigte der Meister uns Lehrlingen den Umgang mit Chemikalien, das Abfüllen von Säuren und das Etikettieren der Flaschen. An einem Behälter mit Fluss-Säure, der stärksten Säure überhaupt, die unter anderem zum Ätzen von Glas verwendet wird, demonstrierte er uns die Gefahr, die beim Abfüllen besteht. Immerhin habe er selbst dabei seinen rechten Arm verloren. Ausgerutscht und für Bruchteile von Sekunden den Arm untergetaucht. Als er den Arm wieder raus zog, waren da nur noch Knochen und Hautfetzen. Sehr beeindruckend für Lehrlinge. Auch galt hier der absolute Hinweis, dass nie an einem Flüssigkeitsbehälter mit der Nase gerochen werden durfte. Man nahm jeweils den Stöpsel aus dem Behälter und wedelte ihn vor der Nase, um den Inhalt zu bestimmen. Die Fachsprache war Latein.

Meine Schwester Vera hatte in der Zwischenzeit den Arbeitgeber gewechselt und war jetzt bei der VAB im Büro tätig.

Im Rahmen der Ausbildung wechselte ich durch alle Abteilungen im Haus. So musste ich den Fahrer zum Flugplatz Tempelhof begleiten, um den 96,4-prozentigen Alkohol in plombierten Fässern abzuholen, der zur Herstellung von Tinkturen benötigt wurde. Diese Fässer wurden zunächst eingelagert und durften nur in Gegenwart von Zollbeamtem geöffnet werden, die das Siegel entfernten und den Alkohol überprüften. Dann wurde der Alkohol noch auf Geruch und Geschmack getestet, verdünnt mit destilliertem Wasser. Ich sollte auch mal kosten, habe mich aber gewaltig verschluckt. Der Test im Reagenzglas hatte mindestens 60% Alkoholanteil. Die Tinkturen wurden für heutige Verhältnisse in primitiver Weise hergestellt. So wurden zum Beispiel Baldrianwurzeln in dem hochprozentigen Alkohol zunächst tagelang gelagert. Dann folgte die Auspressung über eine Wäschepresse per Hand. Der hochprozentige Auszug wurde dann geprüft und als Tinktur gefiltert abgefüllt in Flaschen und mit Etikett versehen an die Apotheken als Tinktura Valerianae verkauft. Auch die Vaselinsalbe wurde hier in großen Mörsern hergestellt. Eine anstrengende Arbeit. Die Herstellung erfolgte natürlich immer unter strenger Aufsicht. Wir Lehrlinge lernten die Herstellung der Arzneimittel von der Pike auf.

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http://www.ewnor.de/hek/7972_hek.php
Interessierter
 

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