Italienische "Gastarbeiter"

Italienische "Gastarbeiter"

Beitragvon Interessierter » 16. Januar 2017, 15:19

Mit den Worten "Der Itaker soll sei Abeit mache un net immer die Weiber aabaggern", stapfte der Tankwart wütend in unser Büro und beschwerte sich über seinen italienischen Tankwart-Helfer. Der Zusatz "Helfer" war wichtig, denn Tankwart war damals ein Ausbildungsberuf und die Innung achtete darauf, dass nicht jeder Hilfsarbeiter sich als "Tankwart" bezeichnete. Tatsächlich war der beschuldigte Helfer, ein italienischer "Gastarbeiter", sehr charmant zu den Damen am Steuer und leitete jedes Gespräch mit einem Kompliment ein. Das brachte ihm meistens ein gutes Trinkgeld, während der Tankwart oft leer ausging.

Ich ( die Autorin ) war zu dieser Zeit Lehrling in einem großen Autohaus. Hier wurden Neu- und Gebrauchtwagen verkauft, es gab mehrere Werkstätten für Reparaturen und eine große Tankstelle. Es waren fast 200 Mitarbeiter beschäftigt. Der Computer, der später viele Arbeitsplätze wegrationalisieren sollte, war noch Science-Fiction. Die Personalleiterin mochte mich wohl gut leiden, was auf Gegenseitigkeit beruhte, rekrutierte mich ab dem zweiten Lehrjahr und machte mich zu ihrer rechten und linken Hand für die gesamte Lehrzeit
"" und darüber hinaus.

Anfangs war eine meiner zeitaufwendigsten, aber angenehmsten Arbeiten das Anwerben von italienischen "Gastarbeitern", denn ich war jetzt oft unterwegs und konnte in der Stadt bummeln. Die bürokratischen Hürden, um nach Deutschland zu kommen, waren damals noch sehr hoch. Wir mussten jeden einzelnen Arbeiter namentlich anfordern. Die Adressen bekamen wir von Italienern, die bereits im Land waren.

Ich füllte die erforderlichen umfangreichen Antragsformulare aus. Dazu kamen noch ein befristeter Arbeitsvertrag und ein befristeter Mietvertrag. Diese Unterlagen wurden dann an die Außenstelle des deutschen Arbeitsamtes nach Italien geschickt. Wenn der Antrag genehmigt war, wurde der Ausreisewillige von deutschen Ärzten vor Ort noch auf Herz und Nieren geprüft, ob er auch arbeitstauglich war. Dann bekam er ein vorläufiges Einreisevisum, das als Extraformular im Pass liegen musste. Dann ging es los: Alemania vengo! (Deutschland ich komme!)

Nach der Ankunft in Deutschland lernten wir unseren neuen Mitarbeiter zum ersten Mal kennen. Die Genehmigung für den Zuzug von Familienmitgliedern zu bekommen, war äußerst schwierig und von der Regierung nicht erwünscht. Die jungen arbeitsfähigen Männer sollten nur kurze Zeit bleiben und dann wieder zurück in die Heimat gehen und andere sollten an ihre Stelle treten. Sie waren ja "Gast"-Arbeiter und Gäste gehen wieder nach Hause. Soweit die Theorie. In der Praxis wollten die Unternehmen die gerade eingearbeiteten Hilfskräfte behalten und nicht ständig wieder neue anlernen, darum wurden die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisse immer wieder verlängert. Ich musste jetzt alle erforderlichen Papiere für den Aufenthalt der "Gastarbeiter" hier in Deutschland besorgen.

Es war aber so, dass ich nicht nur aufgrund der vielen Befristungen und anschließenden Verlängerungen recht häufig "im Außendienst" war. Auf den Ämtern musste ich immer ach soo lange warten. In Wirklichkeit war ich bei den Behörden bekannt und konnte, an den Warteschlangen der persönlichen Antragsteller vorbei, direkt zu den entsprechenden Beamten und Sachbearbeitern gehen. So habe ich mir einige Stunden Freizeit während der Arbeitszeit verschafft.

Ich ging zum Arbeitsamt, um die auf ein halbes Jahr befristete Arbeitserlaubnis zu beantragen. Diese Arbeitserlaubnis wurde nur für die anwerbende Firma erteilt. Anschließend musste ich zum Ausländeramt, um die ebenfalls befristete Aufenthaltserlaubnis, die nur in Verbindung mit der Arbeitserlaubnis Gültigkeit hatte, zu beantragen. Ich pendelte oft von einer Behörde zur anderen, denn man bekam nur die eine Erlaubnis, wenn man die Andere vorweisen konnte. Eigentlich unlösbar. Wie es letztendlich doch klappte, weiß ich leider nicht mehr genau.

Der Betriebsrat legte großen Wert darauf, dass alle neuen Mitarbeiter automatisch Mitglied der Gewerkschaft wurden. Also ging ich auch zum Gewerkschaftshaus und beantragte dort die Mitgliedschaft, diesmal unbefristet. Das war reine Formsache. Die meisten Arbeiter – nicht nur die "Gastarbeiter"– dachten, dass das eine Zwangsversicherung wie die Krankenkasse sei.

Ich war auch persönlich bei den Vermietern wegen der Mietverträge. Die Firma musste die Bürgschaft für die Mietzahlung übernehmen. Die großen Industriebetriebe bauten meist auf dem Firmengelände einfache Baracken für die "Gastarbeiter". Die Anforderungen für eine "angemessene" Unterkunft waren äußerst gering.

Meine Firma war auf private Vermieter angewiesen. Einer der Vermieter war der Besitzer des Nachbarhauses, in dem wir früher wohnten. Hier hielt ich mich meistens länger auf, denn ich wurde immer zum Kaffee eingeladen und erfuhr nebenher den neuesten Klatsch aus der alten Heimat. Das große Mietshaus hatte der Nachbar nach der Zerstörung im Krieg mit staatlichen Fördergeldern wieder aufgebaut. Nach Beendigung der Mietpreisbindung erhöhte er kräftig die Mieten, was zur Folge hatte, dass viele Mieter auszogen. Aus diesen jetzt leerstehenden Zwei- und Dreizimmerwohnungen entstanden "Gastarbeiter"-Unterkünfte. Jedes Zimmer wurde mit zwei Etagenbetten, Schrank, Tisch und Stühlen möbliert. Die Küche und das Bad waren zur Allgemeinbenutzung. Er stellte Geschirr und Bettzeug zur Verfügung und es gab eine Gemeinschaftswaschmaschine. Für die Sauberkeit waren die Bewohner selbst zuständig, der Vermieter machte häufig "Stubenappelll". Die Miete kassierte er jetzt nicht mehr je Wohnung, sondern "pro Kopf", wodurch sich der Mietertrag um ein Vielfaches erhöhte.

Wenn eine Anwerbung erfolgreich abgeschlossen war, bekam ich als Belohnung zehen D-Mark in bar. Es war mir klar, dass ich am Ende einer Zahlungskette stand, aber ich habe mich gefreut, zumal mein Taschengeld nicht gerade üppig war. Wie viel "Kopfgeld" insgesamt floss und woher es kam, konnte ich nicht herausfinden.

Es war auch oft der Fall, dass ein angeworbener Arbeiter nicht zu uns passte oder dass er selbst eine andere Arbeitstelle wollte. In diesem Fall war es einfach, die Arbeitserlaubnis auf einen neuen Arbeitgeber umzuschreiben. Dafür wurde von der neuen Firma eine "Provision" an den alten Arbeitgeber gezahlt. Der neue Betrieb ersparte sich ja das ganze Procedere mit der Anwerbung.

Die meisten der Italiener fügten sich gut in unsere Belegschaft ein. Trotz ihrer nicht einfachen Lebensumstände waren sie lebenslustig und man hörte sie oft während der Arbeit italienische Volkslieder oder Opernarien singen. Es gab damals keine speziellen Deutsch-Kurse für Ausländer und so kam ein drolliges "Deutsch-hessisch-italienisch" zu Stande. Sie unterdrückten pflichtgemäß – nach hessischer Art – alle Wortendungen, machten aus "ch" ein "sch" und setzten nach einem Konsonantenam Wortende ein italienisches "e". Es war ein gegenseitiges: "Ische nixe vesteh".


Die Meinung der Bevölkerung über die italienischen "Gastarbeiter" war gespalten. Die einen freuten sich, dass nun jemand da war, der die Drecksarbeit machen wollte, denn es wollte kaum ein Deutscher mehr den Müll wegmachen oder die Straßen fegen. Anderen waren sie ein Dorn im Auge. Italiener wurden als Spaghettifresser, Itaker und Messerstecher beschimpft. Jetzt gab es neben den "Amis" auch die Italiener, mit denen man als Mädchen oder Frau auf keinen Fall Umgang haben durfte, um nicht als "Flittchen" oder Schlimmeres bezeichnet zu werden. Vorsichtshalber erzählte ich zu Hause nichts davon, was ich in der Firma tat und dass ich häufig Kontakt mit Italienern hatte.

Trotz des als Schimpfwort gedachten Ausdrucks "Spaghettifresser" kamen jetzt auch bei uns Spaghetti auf den Tisch. Das Gemüseangebot wurde durch viele mediterrane Gemüsesorten erweitert, wie etwa den seltsamen Gurken, die Zucchini heißen. Es gab die ersten Pizzerien und vor allem die neuen italienischen Eiscafés, die zum Treffpunkt für uns Jugendliche wurden. …Und Conny Froboess sang dort aus der Jukebox: "Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli" .

Ich hatte niemals Probleme mit Italienern und zu allen ein freundschaftliches Verhältnis. Vielleicht lag es auch daran, dass ich ihnen in manchen Dingen behilflich sein konnte. Ich zeigte die bürokratischen Wege auf, wenn einer seinen "Amico" aus Napoli nach Deutschland holen wollte, ich half beim Ausfüllen von Formularen, wie zum Beispiel den Postanweisungen für die Geldzahlungen an die Familie zu Hause oder dem Lohnsteuerausgleich.

Die Zeiten änderten sich allmählich. Es kamen "Gastarbeiter" aus Spanien, Portugal, Griechenland, Jugoslawien und der Türkei. …Und Udo Jürgens sang "Griechischer Wein". Das Lied thematisierte, noch stärker als Jahre zuvor der Schlager von Conny Froboess, das Thema: Heimweh der "Gastarbeiter".

Die Zuwanderung der Familienmitglieder wurde erleichtert. Jetzt beschäftigten wir nur noch südeuropäische Putzfrauen. Die Befristungen der Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse galten für größere Zeiträume, waren nicht mehr firmenbezogen und wurden nach ein paar Jahren Aufenthalt in "Unbefristet" abgeändert. Aus "Gastarbeitern" wurden Mitarbeiter.
Heute haben die Bürger der Europäischen Union das Recht, sich in jedem Mitgliedsstaat frei zu bewegen und sie können eine Arbeit oder Selbständigkeit zu den gleichen Bedingungen wie die "Inländer" aufnehmen.


Autorin: Margot Bintig, im Oktober 2016
Interessierter
 

Re: Italienische "Gastarbeiter"

Beitragvon Edelknabe » 13. Februar 2017, 12:32

Köstlich dieser herrliche Text von der Margot übers alte Westdeutschländle. Also ne Interessierter, schon damals wollte der verwöhnte Westdeutsche doch einfach nicht mehr die "niederen Arbeiten" ausführen, und holte sich die Gastarbeiter.Wie sich doch auf der Seite die Geschichte wiederholt. Nur eben mit dem Anderen, dem Fleiß zum Bruttosozialprodukterhalt nicht. Und wenn ich das so lese, die Jungs waren ja noch gelinde gesagt gesittet, und Vermieter noch nicht zu grünweichgespült, da klappe das noch mit deutscher Zucht und Ordnung.

Da war noch "Du machst das mal und möglichst sofort" ein Muss und nicht "Wenn du mal Zeit hast...und würdest du bitte" diese weichgespülte Erziehungs-Scheiße von heute und entschuldigt.

Das waren noch wunderschöne Wirtschaftswunderzeiten Interessiert,ich komme direkt ins schwärmen, da war alles noch sinngemäß Spaghetti. Also ne, da "bereichert" uns heute wahrlich schon ne andere Wirtschaftswunderzuwanderertruppe. Die Jungs greifen Frau erstmal in den Schritt und an die Brüste, ehe die Jungs doch eventuell auf den Gedanken kommen, überhaupt mal nach Arbeit zu fragenHAAAAAAAAAaaaaaaaaa

Rainer-Maria und bitte weiter solche Alltags Texte ehemals Westdeutsch, die sind wenigstens ehrliche Geschichtserzählung.

Und einen guten Tag allen ins Forum
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