Heute entscheidet es sich: Entweder die oder wir-9.10,89 in Leipzig

Alle Themen die eine Bezug zur Wende und Grenzöffnung haben. Persönliche Erlebnisse, Gedanken aus dieser Zeit, Dokumente und ähnliches.

Heute entscheidet es sich: Entweder die oder wir-9.10,89 in Leipzig

Beitragvon Interessierter » 21. November 2015, 14:33

Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkung
Ein Beitrag zur Geschichte der Entwicklung 1989/90 in Leipzig


Inzwischen ist die Zahl derer, die sich das Verdienst für den friedlichen Ausgang des 9. Oktober 1989 an die Brust heften, nicht mehr zu überschauen und steht im krassen Widerspruch zu den in den Akten niedergelegten Fakten.
Im folgenden werde ich die Ereignisse um den 9. Oktober möglichst genau beschreiben, da bisher überwiegend spekulative Darstellungen von ehemaligen Entscheidungsträgern vorliegen.

Zunehmend unterstellt auch die Zeitgeschichtsforschung, daß der Einsatz polizeilicher Gewalt und damit eine »chinesische Lösung« an jenem 9. Oktober durch zentrale Entscheidungen aus den Berliner Ministerien bzw. aus dem Politbüro direkt verhindert worden sei, ohne jedoch konkrete Belege für diese Behauptung vorzulegen.1 Begründet wird dies damit, daß sich die Reformer innerhalb der SED nur so gegen Honecker hätten durchsetzen können und daß es keine bezirkliche Entscheidungskompetenz gegeben hätte. Ob es Reformer in der SED gab, mag dahingestellt bleiben. Die erhaltenen Dokumente jedenfalls belegen deutlich, daß die Entscheidungsbefugnis an diesem Tag bei der Bezirkseinsatzleitung in Leipzig lag. Diese kapitulierte ausschließlich vor den unerwarteten Menschenmassen von über 70.000 Demonstranten und ging zur »Eigensicherung« über.

http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... hollitzer/

Ein sehr langer, aber auch sehr interessanter Bericht, der detailliert die Vorgänge schildert.
Interessierter
 

Re: Heute entscheidet es sich: Entweder die oder wir-9.10,89 in Leipzig

Beitragvon augenzeuge » 21. November 2015, 14:45

Die einzige zentrale Entscheidung dieses Tages bestand in der nachträglichen Absegnung der Fakten, die in Leipzig durch den Mut und die Friedfertigkeit der 70.000 protestierenden Bürger geschaffen worden waren.

Die bereitstehenden mehreren tausend bewaffneten Sicherheitskräfte waren nicht zum Einsatz gekommen. Damit war endgültig klar, daß all diese infolge des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 geplanten und danach immer perfekter vorbereiteten Maßnahmen in der entstandenen Situation undurchführbar geworden waren. Die Sicherheitsorgane standen nicht, wie sie sich jahrzehntelang eingeredet und auch öffentlich verbreitet hatten, einer Handvoll »Rädelsführern und Handlangern« gegenüber, die von »reaktionären imperialistischen Kreisen« ferngesteuert wurden, sondern einer breiten Masse der Bevölkerung.


Wie "blind" müssen diese gewesen sein, wenn sie dies nicht vor dem 9.10. erkannten?
AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“.
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 84213
Bilder: 6
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen

Re: Heute entscheidet es sich: Entweder die oder wir-9.10,89 in Leipzig

Beitragvon Interessierter » 4. September 2016, 08:16

Die Leipziger Demos und das " Singende Pferd "

Der Dieb stiehlt das Pferd des Sultans. Er wird erwischt und zum Richter gezerrt. Der Sultan befiehlt die Todesstrafe. Gnade, wimmert der Ertappte. Der Sultan gewährt ihm ein Jahr Aufschub, wenn er dem Pferd das Singen beibrächte. Die Mitgefangenen lachen den Dieb aus. Was wollt ihr denn, sagt dieser. Der Sultan kann in dem einen Jahr sterben, ich kann sterben, das Pferd kann sterben - und wer weiß, vielleicht lernt der komische Gaul doch das Singen.

Selbstverständlich war ich auch an diesem Montag auf dem Ring. Ebenso selbstverständlich stand das Neue Forum am Dittrichring vor der Runden Ecke. Die jungen Menschen bildeten mit ihren Körpern eine Kette. Sie schützten uns und das Haus des Grauens und der Furcht voreinander. Wir hatten die große Sorge, daß die Jalousien plötzlich geöffnet würden, daß aus den Fenstern hinter ihnen Maschinengewehre und Granaten die Chinesische Lösung in die Innenstadt Leipzigs hineinschießen könnten. Setze-pfandt, der Bürgermeister von Leipzig-Mitte hatte auf einem Forum in der Gohliser Friedenskirche mit eindringlichen und dringenden Worten vor unbedachten Handlungen gewarnt. Wir sollten uns in unserem Interesse dort zurückhalten, hatte er in Gohlis erklärt. Wir waren uns nie sicher, ob die Sorge um seine Bürger oder ob der Befehl seiner Auftraggeber ihn zu diesen Worten gebracht hatten. Er wisse, was hinter diesen Fenstern auf uns warte, hatte er gesagt. Das jedenfalls glaubten wir ihm.

Und wir wußten auch nicht, ob die lautesten Schreier gegen dieses Haus aus diesem Haus gesandt waren. Es gab wirre Behauptungen, vorgetragen bis zur Tollheit. An diesem Abend ging die Parole um, die Stasi wäre an einheitlichen neuen Jeansjacken zu erkennen. Wie das Gerücht entstand, erfuhren wir nie. Es errichtete Mißtrauen zwischen uns. Unsere Aufmerksamkeit richtete sich auf neue Jeansjacken. Sollten wir uns darüber Gedanken machen? Wir wußten noch nicht, welche Methoden der psychologischen Kriegführung gegen uns angewendet wurden. Wir wußten nur, daß die da drinnen geschickt waren und welche unter uns schickten. Wir liefen mit berechtigtem und mit unberechtigtem Mißtrauen und mit echtem und mit fahrlässigem Vertrauen.

So zogen wir über den Ring, Montag für Montag. Vor diesem Haus riefen wir unsere Angst heraus. Für Pfeifen im Walde waren unsere Rufe wohl zu laut, aber es machte uns immerhin mehr Mut. Das Rufen schuf Selbstvertrauen. Viele zündeten Kerzen auf den Steinstufen vor dem Eingang an. Kaum einer wußte damals, daß dieser Eingang nicht mehr genutzt wurde. Aber diese mutigen Kerzen brachten das Haus erst wieder in ein menschliches Maß. Sie schrumpften diesen unberechenbaren Komplex mit seinen unheimlich dunklen Fensterhöhlen und flüsternd weitererzählten Geschichten auf eine faßbare Größe. Die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit war nicht mehr der Moloch, der uns nur und ausschließlich Angst bereitete. Die Bezirksverwaltung wurde zu einem Gegner, dessen Schlagkraft wir einzuschätzen versuchten.

Die Berichte von den Straßenkämpfen um den Dresdener Hauptbahnhof und von den Zugbelagerungen in Freiberg und in Plauen, vom hoffentlich letzten Geburtstag dieser Republik mit seinen Einsätzen wütend knüppelnder Polizisten in Leipzig hatten wir anfangs nur leise und vorsichtig weitererzählt, dann heimlich aufgeschrieben, später das Geschriebene offen verteilt. Niemandem war etwas geschehen. Wir wußten, daß die Zeit der Furcht vorbei war, daß wir etwas gewendet hatten: uns und unsere Angst. Deshalb riefen wir immer wieder die Angst aus uns heraus und wurden sie damit immer wieder los. Wir ließen die Furcht hinter uns und wurden wieder Menschen.


Der vollständige Beitrag hier:
http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... 4-langner/
Interessierter
 

Re: Heute entscheidet es sich: Entweder die oder wir-9.10,89 in Leipzig

Beitragvon Danny_1000 » 4. September 2016, 13:20

Mal abgesehen davon, dass wir dieses Thema hier schon mehrfach besprochen haben:

Interessierter hat geschrieben:Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkung
Ein Beitrag zur Geschichte der Entwicklung 1989/90 in Leipzig


.......Begründet wird dies damit, daß sich die Reformer innerhalb der SED nur so gegen Honecker hätten durchsetzen können und daß es keine bezirkliche Entscheidungskompetenz gegeben hätte. Ob es Reformer in der SED gab, mag dahingestellt bleiben. Die erhaltenen Dokumente jedenfalls belegen deutlich, daß die Entscheidungsbefugnis an diesem Tag bei der Bezirkseinsatzleitung in Leipzig lag.
Beim Lesen dieser Abhandlung fielen mir zwei Dinge auf: Zum Einen kann man die Behauptung Hollitzers bezüglich der ausschließlichen Kompetenz der BEL (Bezirkseinsatzleitungen) um den 9.10.1989 so nicht stehen lassen. Im Artikel widerspricht er sich da teilweise auch selber. Die DDR war ein zentralistisch regierter Staat. Ohne die Abstimmung mit den Führungsgrößen in Berlin lief in einer BEL gar nichts.

Und: Bekannt über Leipzig hinaus wurde der Aufruf der „Gruppe der 6“ um Kurt Masur und 5 weiteren örtlichen Persönlichkeiten als Appell an die Leipziger zu einer friedlichen und gewaltfreien Demonstration am 9.Oktober.1989. Der aber findet in Hollitzers Abhandlung überhaupt keine Erwähnung.

Interessierter hat geschrieben:Diese kapitulierte ausschließlich vor den unerwarteten Menschenmassen von über 70.000 Demonstranten und ging zur »Eigensicherung« über.
Ja um alles in der Welt: Jede andere Entscheidung hätte in einem Blutbad geendet. Und das wollte von den damals Verantwortlichen scheinbar niemand. So gesehen asu heutiger und damaliger Sicht: Eine sehr vernünftige Entscheidung !

Gruß
Danny
Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben
dafür einsetzen, dass du es sagen darfst !
(Evelyn Beatrice Hall 1868; † nach 1939)
Benutzeravatar
Danny_1000
Grenztruppen
Grenztruppen
 
Beiträge: 2754
Registriert: 24. April 2010, 19:06

Re: Heute entscheidet es sich: Entweder die oder wir-9.10,89 in Leipzig

Beitragvon Interessierter » 9. September 2016, 10:08

Erinnerungen an die Leipziger Demos - "Der Mut war endlich größer als die Angst"

Vor rd. 27 Jahren gehen 1000 Mutige nach dem traditionellen Friedensgebet in der Nikolaikirche in Leipzig auf die Straße. Sie fordern Reformen und eine neue Regierung. Der Protest am 4. September 1989 geht als erste Leipziger Montagsdemonstration in die Geschichte ein. In den folgenden Wochen wird sie immer machtvoller. "Der Mut der Bevölkerung war endlich größer als deren Angst!", erinnert sich SPD-Schatzmeister Dietmar Nietan.

Meine ganz persönlichen Erinnerungen an den 4. September 1989 beginnen eigentlich erst vier Wochen später: Am Montag, den 2. Oktober 1989 stoppt der D-Zug von Köln nach Leipzig nachmittags im Bahnhof von Eisenach, seinem ersten Halt auf dem Staatsgebiet des “ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaates”. Da meine halbe Familie in der DDR lebt, sind die Zugfahrten “nach drüben” inklusive der strengen Grenzkontrollen für mich zur Routine geworden. Doch diesmal wird es anders sein. Diesen Halt in Eisenach werde ich nicht mehr vergessen.

Als der Zug in den Eisenacher Bahnhof einfährt, sitzt meine damalige Lebensgefährtin und heutige Ehefrau alleine mit mir im 6er Abteil der 2. Klasse. Dagmar ist sehr gespannt auf die DDR. Es ist ihre erste Reise dort hin. Wir schieben das Fenster auf, damit frische Luft in das Abteil gelangen kann. “Hier brennt es irgendwo”, ruft meine spätere Frau. Ich erkläre ihr, dass in der DDR mit Braunkohle geheizt werde und es im Herbst und Winter hier überall nach Kohle riechen würde.

Den Honecker in die Wüste schicken


In diesem Moment wird die schwergängige Schiebetür des Abteils mit einem großen Rums aufgerissen. Ein junger Mann in unserem Alter stürmt hinein, gefolgt von drei älteren Damen. “Es wird Zeit, dass die den Honecker in die Wüste schicken und den Schleimer Krenz gleich mit”, bricht es aus ihm heraus. “Sie beide kommen ja aus dem Westen”, wendet er sich nun an uns. “Gucken Sie sich das hier noch mal alles gut an. Die DDR ist bankrott. Die gibt´s nicht mehr lange!”

Mir stockt der Atem. So etwas hatte ich zuvor noch nie erlebt und bisher auch nicht für möglich gehalten. War der Mann ein Provokateur der Stasi? “Na, se hamm vollkommen recht! Ich kann die Brüder vom Politbüro alle nicht mehr sehen! Die belügen und betrügen das Volk nach Strich und Faden”, legt eine der drei älteren Damen nach. Kein betretenes Schweigen, wie ich es vermutet hätte, sondern eine muntere Diskussion über den ökonomischen und moralischen Bankrott einer Diktatur entwickelt sich an diesem denkwürdigen Tag in diesem Abteil des D-Zugs nach Leipzig. Als ich aus dem Zug aussteige, ist für mich klar, dass sich dieses Regime nicht mehr lange halten wird. Der Mut der Bevölkerung war endlich größer als deren Angst!

1.000 mutige Menschen machen sich auf

Im Sommer 1989 begann die Massenflucht über die von Ungarn geöffnete Grenze nach Österreich. Tausende Menschen flüchteten in die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau. Michail Gorbatschow entzog den alten Autokraten von Bukarest bis Ost-Berlin den Schutzschirm. In internen Papieren wurde dem Politbüro der SED klar gemacht, dass der Bankrott der DDR kurz bevor stand.

Und so machen sich am 4. September 1989 fast 1.000 mutige Menschen nach dem Friedensgebet zur ersten “Montagsdemo” auf. Es lief gerade die Leipziger Messe. Viele ausländische Gäste waren in der Stadt und natürlich auch viele westliche Medien. So mussten sich Stasi und Volkspolizei zurückhalten. Der humanistische Anschein nach außen war den Herrschenden damals durchaus wichtig. Diejenigen, die am 4. September 1989 mutig in der ersten Reihe der Demonstranten standen, wurden erst bei der Montagsdemo eine Woche später gezielt herausgegriffen und interniert. An dem Tag war die Leipziger Messe vorbei und auch nicht mehr so viele “Westmedien” dabei.

Am Montag, den 9. Oktober, fünf Wochen nach der “ersten” Montagsdemo vom 4. September waren aus den 1.000 mittlerweile 70.000 mutige Menschen geworden. An diesem Abend wurde in Leipzig das Ende der DDR endgültig eingeleutet. An diesem 9. Oktober wurde die Mauer der Angst endgültig eingerissen. Dass exakt einen Monat später am 9. November dann auch die Mauer aus Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Beton fiel, war die zwangsläufige Folge der friedlichen Revolution, die am 4. September in der Nikolaikirche ihren Ausgang nahm.

Entwaffnende Friedfertigkeit

Die Menschen verließen die Nikolaikirche jeden Montag, um mit einer Kerze in der Hand friedlich zu demonstrieren. Pfarrer Führer sagte dann: “Mit einer Kerze in der Hand kann man keine Steine werfen!” Auf diesen Mut, die Angst um sich selbst zu überwinden und die scheinbar übermächtige Staatsmacht mit einer entwaffnenden Friedfertigkeit zu düpieren, waren die Herrschenden Kader nicht vorbereitet. Volkskammerpräsident Horst Sindermann brachte es später auf den Punkt:

“Wir waren auf alles vorbereitet, aber nicht auf Kerzen und Gebete.”

All den mutigen Menschen der friedlichen Revolution von 1989 wird immer meine große Bewunderung und tiefe Dankbarkeit gehören.

Der vollständige Beitrag hier:
https://www3.spd.de/aktuelles/123272/20 ... ipzig.html
Interessierter
 


Zurück zu Die Wende

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 2 Gäste

cron