Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Alle Themen die eine Bezug zur Wende und Grenzöffnung haben. Persönliche Erlebnisse, Gedanken aus dieser Zeit, Dokumente und ähnliches.

Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon karl143 » 17. Juli 2010, 13:20

Sicher, im ersten Moment überwiegte die Freude. Aber war nach einiger Zeit nicht auch die Ernüchterung da. Was würde es der Bundesrepublik kosten, diese Wiedervereinigung zu bezahlen. Wie sah es 1989 in der Bundesrepublik aus. Die CDU war einige Jahre an der Macht und schwächelte. Die Arbeitslosigkeit lag bei unter 8 %. Wer seine Arbeit verlor bekam ca. 3,5 Jahre Arbeitslosengeld, welches prozentual höher war als heute. Besuche in der DDR waren möglich, und die Reise nach Westberlin und zurück durch das Transitabkommen geregelt. Urlaub wurde in Spanien gemacht, und wenn im Ostblock über Neckermann an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Jeder hatte sein Aus- und Einkommen und der Wohlstand stieg immer noch an. So richtig Angst vor einem Krieg hatte sowieso keiner, was die Menschen mehr beschäftigte war Atomkraft und Vokszählung. Es hatte keiner Angst vor Banden aus Rumänien oder Russland, in den Straßen saßen keine Bettler vom Balkan. Das war der Zustand der Bundesrepublik grob umschrieben, als die Mauer fiel. Zu diesem Thread hier können sich eigentich nur Wessis äußern, aber da hier ein ziemliches Übergewicht von DDR Themen besteht, wäre es doch schön, auch die Einstellung von Menschen zu lesen, die zu dieser Zeit in den alten Bundesländern gelebt haben.
karl143
 

Re: Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon Luchs » 17. Juli 2010, 16:33

Ja genau das war die damalige Lage, Karl-Heinz. Das waren die Gedanken, die auch mir durch den Kopf gingen, zwischen Wende und Wiedervereinigung. Bei mir war es alledings so, dass mir beide deutsche Staaten sehr schnell als zusammengehörig erschienen.

Gerade im Grenznahen Gebiet kursierten viele Gerüchte über die "dummen" Ossis und deren Verhalten. Das hat mich sehr betroffen gemacht. Sah ich uns doch alle als deutsche. Natürlich haben sich einige - ich sag mal - "merkwürdig" verhalten, bevorzugte Behandlung eingefordert ("Ihr habt 40 Jahre ... jetzt sind wir dran!"), gestohlen, gepöbelt, ... . Aber das haben Wessis auch. In der DDR sowie auch in der Bundesrepublik.
Viele Grüße [hallo]
Micha
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Re: Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon Berliner » 17. Juli 2010, 17:37

...und auch der kleine Mann kommt zu Wort.

Berliner [hallo]



Quelle: Damals in der DDR - Das letzte Jahr, Teil 1: Freiheit ohne Grenzen
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Re: Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon augenzeuge » 17. Juli 2010, 18:32

Es war schon ein komischer Zufall. Die Wende der DDR kommt zu einem Zeitpunkt, wo die BRD als mit reichster Staat Europas diese jetzt anfallenden Kosten bewältigen kann. Man hatte einen Beschäftigungszuwachs von 500.000 Menschen, Deutschland war Ende '89 auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit. Die BRD als einziges Land in der westl. Welt, welches 1989 im öffentlichen Sektor mit einem Überschuss abgeschnitten hatte. Damals nahm man das aber kaum zur Kenntnis.

Ich glaube, es gab kaum einen Fleck in Deutschland wo die Einheit enthusiastischer begangen wurde, als Berlin. Nach den vielen Jahren der Nachteile durch die besondere Lage der Stadt war die Freude übermächtig. Und es gab auch kaum einen Fleck, der vom Verkehr betroffener war, als Berlin. Über die Nadelöhr-Güst-Stellen fiel unablässig aus allen Himmelsrichtungen ein Autoverkehr in die Stadt, wie ihn bisher niemand erlebt hatte. Täglich entstanden neue Übergänge, Kontrollen gab es kaum noch.

Zu keinem Zeitpunkt habe ich in den ersten 8 Wochen Menschen erlebt, die sich negativ über diese Entwicklung beklagt haben. Die, die es vielleicht gedacht haben, trauten sich nicht etwas in dieser Richtung zu sagen. An einen Menschen erinnere ich mich, der es nicht gut fand. Er war mittels Ausreiseantrag nach Jahren aus Ostberlin kurz zuvor ausgereist, und jetzt kamen sogar die Menschen rüber, die ihn jahrelang im Betrieb schikaniert hatten. Damit kam er nicht klar.
Aber die Mehrheit nahm alles hin, den längeren Arbeitsweg, den Lärm, die vollen Geschäfte, ausverkaufte Obstabteilungen.

Ich fand es erstaunlich, wie gut in Berlin die Wessis und Ossis zurecht kamen. Ein Höhepunkt war der 3.10.90, abends am Reichstag. Nie zuvor hatte ich größere Menschenmengen gesehen, hatte mich in diesen bewegt. Man spürte plötzlich, welch ein Glück dieses Volk gehabt hatte. Trunken von Freude und Glück wechselten die Sektflaschen den Besitzer....ich war dankbar hier dabeisein zu dürfen.
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Re: Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon Wosch » 17. Juli 2010, 22:31

Also aus meiner Sicht!
Ich war glücklich als die Mauer fiel, ich war auch noch Monate und Jahre glücklich und ich bin es auch noch Heute!!
Mich habe sie nicht gestört, die Trabbis mit ihren Rauchfahnen, mich haben sie nicht gestört die mit "Ossis"vollen Geschäfte, mich hat auch nicht gestört, wenn man mich "Wessi" nannte, Ein Traum ging in Erfüllung und Familien waren wieder vereint. Ich kann aber durchaus verstehen, daß in der damaligen Zeit Etliche genervt waren und meistens Die, die eh keine Beziehungen zur DDR hatten, ich meine hiermit speziell enge familiäre!! Spätgeborene hatten die Mauer nicht als das empfunden was sie war, sie war einfach eine Realität, in die sie reingeboren wurden und hatten natürlich nicht den Kontakt zur zur DDR-Verwandschaft, weil sie die zum Teil überhaupt nicht persönlich kannten!

Schönen Gruß aus Kassel. [hallo]
Ich bin stolz darauf, noch nie den "Melde-Button" benutzt zu haben!
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Re: Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon karl143 » 17. Juli 2010, 23:20

@ Wosch und Berliner,
mir ging es nicht darum, Sorgen um qualmende Auspuffe oder leergeräumte Regale zu zeigen, wie es im Clip vom Berliner vorkommt. Die Euphorie, Augenzeuge, die du in Berlin gesehen hast, war sicherlich in der Entfernung zur Grenze immer geringer. Weiter entfernt haben sich, zumindest die Menschen, die sich mit der Zukunft befasst haben, schon gefragt, wie wird das mit dem Wohlstand. Die Bundesrepublik war in der zweiten Hälfte der 80er Jahre wirklich der Primus unter den Industrienationen wo einfach alles stimmte. Und das nicht alles so eintraf, wie uns der Dicke erzählte, das ist ja geschichtlich belegt. Die Sorgen waren Realität. Der einzige Politiker der die Sorge offen ansprach, war Herr Lafontaine von der heutigen SED Nachfolgepartei.
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Re: Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon augenzeuge » 18. Juli 2010, 11:33

karl143 hat geschrieben: Der einzige Politiker der die Sorge offen ansprach, war Herr Lafontaine von der heutigen SED Nachfolgepartei.


Oskar Lafontaine vertrat 1989/90 eine überaus skeptische, einheitskritische Grundhaltung. Er war dieser Zeit nicht gewachsen. Er wies primär auf die sozialen und finanziellen Probleme hin, die Chancen erwähnte er nicht sekundär, spottete förmlich über die grassierende "Deutschtümelei", mit der er wenig anfangen konnte. Seine "Freunde in Wien" seien ihm genauso wichtig wie die in Dresden oder Leipzig...

Nicht zuletzt er sorgte für eine Spaltung der SPD, die im Herbst 1989 weit vor der CDU stand.

Er verstand es, die Kostenfrage der Einheit hochzuspielen – beantworten konnte er sie nicht. Er konnte keine Brücke schlagen zwischen seinem "Fortschritt-90"-Programm und der Chance der Einheit. Stattdessen widmete er sich mit Vorliebe den vermeintlich vergessenen Themen wie Ozonloch, Emanzipation und Umweltbewusstsein. "Liebe deine Umwelt wie dich selbst!" war ihm wichtiger als "Ja zu Deutschland!".

Für mich ist er ein Politiker, der immer den Finger in die Wunde legte, als sie zu heilen verstand. Jemand der immer wegrannte, wenn die Probleme zu groß wurden anstatt sie anzupacken.
Bei ihm trifft das zu, was Karl sagte: Er war im Saarland zwar weit weg von den Geschehnissen und Problemen, aber er tat so, als ob diese im Saarland in der ersten Reihe sitzen würden.
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Re: Waren im Westen wirklich alle glücklich als die Mauer aufging?

Beitragvon Zermatt » 18. Juli 2010, 13:49

Glücklich ist das falsche Wort,man war erstaunt und überrascht und wenn du 300 Km von der Grenze weit weg wohnst und auch keinen direkten Draht,sprich Verwandte und Freunde drüben hattest,so haben die meisten das (jedenfalls bei uns ) eher gelassen gesehen.
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