Mehr als 33 000 politische Gefangene sind in der DDR vorzeitig aus der Haft freigekommen und bis zum Herbst der Wende 1989 von der Bundesrepublik für mehr als drei Milliarden DM an die DDR freigekauft worden. Obwohl die Menschen draußen auf den Straßen schon mit der Forderung "Wir sind das Volk" bei den Montagsdemonstrationen das Ende des SED-Regimes einleiteten, saßen in den DDR-Gefängnissen immer noch politische Gefangene, deren Zukunft und eine Freilassung weiter ungewiss waren. Ostberlin und Bonn hatten in diesem Herbst der Wende ihre Verhandlungen für weitere Freikaufsaktionen abgebrochen, nachdem die immer schwächer werdende Führung der DDR für Dezember eine Amnesty plante. Doch wie die aussehen sollte, war noch nicht klar. Treffend wird diese Situation der Ungewissheit und der plötzlich sinkenden Hoffnung auf Freiheit für politisch Inhaftierte Anfang Dezember 1989 in einem Spiegel-Artikel beschrieben:
Kung-Fu und Roter Terror
Nach der Amnestie soll der staatliche Menschenhandel mit politischen Gefangenen eingestellt werden.
Der Fahrersitz ist herausgerissen, auf dem Armaturenbrett liegt eine dicke Staubschicht, die Nummernschilder sind abmontiert. Der blau-weiße Reisebus der Marke Magirus-Deutz steht auf einem schlammigen Parkplatz am Ufer der hessischen Nidda im Wetteraukreis nordöstlich von Frankfurt. Für "modernes Reisen" mit "WC" an Bord wirbt noch ein weißer Schriftzug auf der Rückscheibe des Bus-Veteranen.
Der unscheinbare Omnibus gehörte einst zu den Requisiten eines der geheimnisvollsten Kapitel in der deutschen Nachkriegsgeschichte: Der Bus transportierte jahrelang von Bonn freigekaufte politische Gefangene aus DDR-Haftanstalten nach Westdeutschland.
Seit Mitte der sechziger Jahre hatte der hessische Reiseunternehmer Arthur Reichert dieses Gefährt, wie auch ein paar andere, im Auftrag des Innerdeutschen Ministeriums eingesetzt. Ein Vierteljahrhundert lang verkehrte der Bus in der Grauzone des staatlich sanktionierten Menschenhandels.
Seit vergangener Woche scheint es, daß die Dienste des Busunternehmers nicht mehr gebraucht werden. Nachdem DDR-Häftlinge Anfang dieses Monats * Am 1. Dezember im Zuchthaus Brandenburg. mit Streiks und Resolutionen gegen ihre Haftbedingungen protestiert hatten, verkündete die Regierung am Nikolaustag eine Amnestie für alle, die wegen eines Verbrechens nicht mehr als drei Jahre Haft verbüßen müssen. Weiterhin in Haft bleiben unter anderem wegen "Rowdytums" verurteilte und damit möglicherweise auch politisch motivierte Häftlinge, an deren Freikauf Bonn stets interessiert war.
Jene Häftlinge, die nicht unter die Amnestie fallen, können auf eine Generallösung hoffen. In geheimer Mission pendelt zur Zeit der Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium, Walter Priesnitz, 57, zwischen West und Ost, um eine Vereinbarung über eine umfassende Haftaufhebung zu erreichen.
Andeutungen über seine Reisediplomatie machte Priesnitz Anfang des Monats auf der Jahrestagung des Vereins "Hilferufe von drüben" im westfälischen Lippstadt. In 14 DDR-Gefängnissen befinden sich nach neuesten Erkenntnissen Bonns nach wie vor über 250 politische Gefangene, einige sind wegen Fluchthilfe-Aktionen, "ungesetzlichem Grenzübertritt" oder "staatsfeindlicher Hetze" zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Im Bundeshaushalt 1991 sind als "Allgemeine Bewilligungen" (Kapitel 2702) weiterhin Gelder für "Hilfsmaßnahmen gesamtdeutschen Charakters" ausgewiesen. So stehen im "Schattenbereich deutsch-deutscher Geheimabsprachen" (Bundestags-Grüne) noch immer Summen in unbekannter Höhe zur Verfügung, um die Vergessenen der DDR-Revolution im Fall der Fälle aus dem Knast zu holen.
Auch künftig soll der DDR-Anwalt und Honecker-Vertraute Wolfgang Vogel, 64, mit dabeisein. Zwar hatte er in der vergangenen Woche aus Verärgerung über seine "irrtümliche" Verhaftung (SED-Erklärung) zunächst sein Vermittlungsamt hingeworfen. Aber Vogels Ost-Berliner Kanzlei bleibt weiterhin für humanitäre Sonderaufgaben geöffnet.
Vogel war durchweg beteiligt gewesen, wenn sich, zunächst gegen Zahlung von Devisen oder Gold, später gegen Waren und Konsumgüter, für Regimegegner die Gefängnistore öffneten. Über verschlungene Wege wie über die Stuttgarter Caritas oder Schweizer Nummernkonten wurden die vertraulichen Zahlungen von zuletzt rund 300 Millionen Mark abgewickelt. Bei größeren Häftlingstransporten von Karl-Marx-Stadt nach Herleshausen fuhr Anwalt Vogel in seinem schwarzen Mercedes 280 voraus. An der Grenze verabschiedete er sich im Bus von den Ex-Häftlingen und ermahnte sie zum Stillschweigen.
Zur Tarnung der verschwiegenen Transporte hatte sich Busunternehmer Reichert von James Bond inspirieren lassen: Zwei Busse verfügten seit 1976 über Nummernschilder, die um 180 Grad drehbar waren. Nach Entsicherung mit einem Schlüssel "aus meinem Tresor" konnte Reichert einen Spezialknopf im Armaturenbrett betätigen. Bei "rot" drehte sich das Nummernschild auf das ostdeutsche Kennzeichen IA-48-32, bei "grün" auf das westdeutsche Nummernschild HU-X 3. Der Kennzeichentausch wurde jeweils während der Fahrt im Niemandsland zwischen den Grenzpfählen vollzogen.
Die Doppel-Nummer für den "Wunderbus", so der ehemalige Unterhändler der Bundesregierung, Rechtsanwalt Jürgen Stange, war eigens vom Verkehrsministerium genehmigt worden. Nicht einmal der Technische Überwachungsverein, der bei TÜV-Untersuchungen jeweils nur das West-Schild zu sehen bekam, wußte davon.
Für seine diskrete Mithilfe bei den humanitären Aktionen wurde Reichert vergangenes Jahr vom Innerdeutschen Ministerium für das Bundesverdienstkreuz vorgeschlagen. Der Unternehmer lehnte ab: "Das brauche ich nicht."
In einem Brief an Kanzleramtsminister Rudolf Seiters und Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher fordern jetzt ehemalige DDR-Häftlinge nicht nur eine weitgehende "materielle Entschädigung für die zu Unrecht erlittene Haft". Sie verlangen auch eine "Bestrafung der Verantwortlichen für physische und psychische Menschenrechtsverletzungen".
Der westdeutsche Verein "Hilferufe von drüben" hat in einer 52-Seiten-Schrift den "ausgeklügelten Psychoterror" in den DDR-Anstalten dokumentiert. Mit Namen, Decknamen, Dienstgrad und Einsatzort listen die "Hilferufe"-Autoren die "schlimmsten Schinder" in den Zuchthäusern der Ost-Republik auf, so zwei Obermeister mit den Spitznamen "Roter Terror" und "Arafat" aus Cottbus und einen "Kung-Fu" aus Karl-Marx-Stadt.
Die Hilferufe von einigen DDR-Häftlingen ganz neuen Typs hingegen werden wohl weitgehend ungehört bleiben. Für die jüngst inhaftierten ehemaligen SED-Spitzengenossen will "Hilferufe von drüben" nicht tätig werden. Vorsitzender Claus Clausen: "Das ist nun wirklich nicht unser Bier." f
DER SPIEGEL 50/1989
Der Link zu dem Bericht: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13497177.html