Willkür und Gewalt in Halle am 9.10.89

Alle Themen die eine Bezug zur Wende und Grenzöffnung haben. Persönliche Erlebnisse, Gedanken aus dieser Zeit, Dokumente und ähnliches.

Willkür und Gewalt in Halle am 9.10.89

Beitragvon augenzeuge » 26. Dezember 2011, 11:11

Protokoll der mündlichen Aussage von Anja Herold im Dezember 1989 vor der Bürgerkommission zur Untersuchung von Willkür und Gewalt (Halle) zu den Ereignissen auf dem Marktplatz am 9. Oktober 1989:

Anja Herold: Mein Name ist Anja Herold. Ich bin am 26.9.1969 geboren.
Dr. Frenzel: Sie sind bereit, hier auszusagen über die Ereignisse?
Anja Herold: Ja.
Dr. Frenzel: Sie sind gehalten die Wahrheit zu sagen, bitte. Soweit Sie Aussagen machen müssten, mit denen Sie sich selber der Gefahr strafrechtlicher Verantwortlichkeit aussetzen würden, haben Sie das Recht auch die Aussage zu verweigern. Würden Sie bitte beginnen?
Anja Herold: Ja. Am 9.10. befand ich mich gegen 20.15 Uhr auf dem Marktplatz und zwar an der Straßenbahnhaltestelle Linie 13, mit einer Bekannten bzw. mit 2 Bekannten, davon eine Freundin, wo ich die Adresse auch weitergeben könnte und eine Bekannte, die ich aber nicht weiter kenne. Wir stellten ein großes Aufgebot an Polizei fest. Es führte eine Kette über die Hälfte des Marktplatzes.
Dr. Frenzel: Würden Sie bitte etwas langsamer vortragen.

Anja Herold: Ja. Es führte also eine Kette, aus Volkspolizisten gebildet, über die Hälfte des Marktplatzes. Es waren sehr viele Menschen auf dem Markt, ich möchte aber betonen, dass keine Demonstration stattfand. Es war kein Transparent zu sehen, es war kein lautes Wort zu hören. Die vielen Menschen waren sicherlich hauptsächlich aus Neugierde dort. Wir standen also dort und plötzlich rannte diese Kette aus Volkspolizisten auf uns zu, ein LKW der Volkspolizei kam aus Richtung „Samenkrug“ ebenfalls auf uns zugefahren. Wir waren im Nu umzingelt und wurden in Richtung dieses LKW getrieben, dabei wurde auch gezielt geschlagen von den Volkspolizisten.

Wir hatten also keine Gelegenheit, uns irgendwie zu rechtfertigen oder zu fragen, wo es hingeht oder zu erklären, dass wir nur auf die Bahn warteten. Erwähnte Bekannte von mir, die sich versuchte zu wehren oder bzw. sich aus dem Griff des Polizisten zu befreien, wurde gezielt geschlagen, sie bekam einen Schlagstock zwischen die Oberschenkel und wurde auf diesen Laster drauf geworfen. Wir fuhren an, wir waren auf diesem Laster ca. 20 Menschen. Uns wurde nicht gesagt wo es hingeht oder weshalb. Wir sind dann losgefahren auf das Gelände der Transportpolizei in der Reideburger Straße, wo wir dann hielten und warten mussten, bis sich ein Halbkreis um diesen Laster gebildet hatte aus Volkspolizisten, bevor wir runterspringen durften von diesem Laster. Uns wurde immer noch nicht gesagt, was nun passiert und weshalb wir dort sind. Wir wurden, ich weiß nicht nach welchen Kriterien, aufgeteilt.

Auf diesem Gelände befanden sich 3 große Garagen und zu uns wurde also nur gesagt: „An die Wand.“ Das war alles. Wir mussten uns also, Männer und Frauen getrennt, in dieser Garage an die Wand stellen, mit dem Gesicht zur Wand, die Hände mussten wir aus den Taschen nehmen, wir durften uns nicht bewegen. Unsere Taschen stellten oder hatten wir vor unsere Füße zu stellen. Uns wurde jede Möglichkeit verwehrt, Aufklärung zu erhalten oder auch Verbindung aufzunehmen, zu telefonieren oder dergleichen. Beaufsichtigt wurden wir von weiblichen Polizisten, also in grünen Uniformen und die Männer waren im Kampfanzug, meiner Ansicht nach Kampfgruppe. In der Garage war es sehr kalt, diese großen Eisentüren waren also geöffnet. Wir durften uns nicht bewegen, um uns zu erwärmen oder dergleichen.

Nach 4 ½ Stunden, es war dann gegen Viertel zwei, wurden wir in Büroräume des Geländes geführt, wo wir nochmals ½ Stunde mit dem Gesicht zur Wand warten mussten. Dort wurden wir ebenfalls von diesen Männern im Kampfanzug und diesen weiblichen Polizistinnen bewacht.
Dr. Frenzel: Bewacht?
Anja Herold: Ja, bewacht. Dann wurden wir getrennt befragt, unsere Personalien wurden aufgenommen und unsere Taschen wurden durchsucht. Nach der Befragung wollte ich auf das Protokoll Einfluss nehmen bzw. lesen, ob auch das so geschrieben wurde, wie ich das erzählt habe, das wurde mir also nicht gestattet. Ich musste dieses Protokoll aber auch nicht unterschreiben. Unterschreiben musste ich ein Schriftstück, das sich „Belehrung“ nannte, wo aber am Anfang des Schreibens ausgesagt wurde, dass ich also bei einer Zusammenrottung von Bürgern aufgegriffen wurde und im letzten Abschnitt wurde mir dann nahegelegt oder gesagt, dass ich, wenn ich nochmals bei einer Demonstration aufgegriffen werden würde mit einer Geldstrafe bis zu 1.000 Mark zu rechnen hätte. Ich forderte danach, nach dieser Befragung nochmals eine Erklärung. Die wurde mir wieder nicht gegeben. Der etwas gelangweilt wirkende Mitarbeiter der Volkspolizei sagte mir nur, dass er sich bei mir entschuldigen könne, aber mehr könne er nicht für mich tun. Ich wurde
dann gegen 2.15 Uhr entlassen und hatte anschließend noch eine ¾ Stunde Weg bis nach Hause zurückzulegen.
(Uni Halle/S)
AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
„Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber nicht auf eigene Fakten“.
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 84745
Bilder: 6
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen

Zurück zu Die Wende

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 14 Gäste