Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

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Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon Ari@D187 » 24. Dezember 2021, 14:22

Da es aktuell ja wieder stark rumort, was Russland und die Ukraine anbetrifft:

Ich erinnere mich an die Diskussion im Konferenzraum des Weißen Hauses. Wir stellen Gorbatschow die Frage: Glauben Sie, dass jedes Land wählen darf, welchem Sicherheitsbündnis es sich anschließen will? Und er sagte: Ja, natürlich.

James Baker


Bob Zoellick, Chefstratege im US-Außenministerium, erinnert sich so: "Ich schickte Präsident Bush eine Notiz, in der ich ihn bat, diesen Punkt zu wiederholen. Also wiederholte er den Punkt. Und Gorbatschow akzeptierte ihn. Aber zugleich konnte man sehen, wieviel Unruhe auf der sowjetischen Tischseite aufkam. Das war einer der ungewöhnlichsten diplomatischen Momente, die ich je erlebt habe. Man konnte seine Delegation, Schewardnadse und die Generäle, bei diesem Schachzug förmlich zusammensinken sehen."


Es scheint von diesem Moment an alles gelaufen. Gorbatschows Unterschrift unter den Pakt: reine Formsache. Und doch dringt von den Gesprächen und Zusagen nichts nach außen.

Der Grund: Die US-Regierung ebenso wie ihre Bonner Verbündeten wissen, dem Kremlchef stehen in Moskau heiße Wochen bevor. Kommunistische Hardliner setzen der Führung schon lange zu. Und Radikalreformer wie Boris Jelzin wiederum fordern die komplette Umgestaltung des politischen Systems.

Beim für Anfang Juli angesetzten 28. Parteitag der KPdSU ist so nur eines sicher: Man wird Gorbatschow dort mächtig in die Zange nehmen. Und es könnte eng werden für den einst umjubelten Mann an der Spitze. Erst recht, wenn jemand von seinen heimlichen Zugeständnissen an die Amerikaner erfährt.

Mit deutlichen Blessuren, aber von Zwei Dritteln der 4.600 Delegierten wiedergewählt, geht Michail Gorbatschow noch einmal als Sieger aus diesem Machtkampf hervor. Und der ersehnten Vollmacht, die Verhandlungen zum Zwei-Plus-Vier-Vertrag zu Ende zu bringen.

Quelle: -> Link

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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon Danny_1000 » 25. Dezember 2021, 11:55

Hier mal 2 Zitate aus dem Jahr 1990: Der Dolmetscher von Gorbatschow schreibt:
Helmut Kohl. German Chancellor, 10 February 1990:
“We consider that NATO should not enlarge its sphere of activity.”

James Baker, US Secretary of State, 9 February 1990:
“Weconsider that the consultations and discussions in the framework of the 2+4 mechanism should give a guarantee that the reunification of Germany will not lead to the enlargement of NATO’s military organization to the East”;


Ich würde deine Frage ob man die Russen über den Tisch gezogen hat, aus russischer Sicht mit einem klaren JA beantworten. Ich kenne ja nun einige politisch interessierte ganz normale Russen, die mal in der DDR gelebt haben. Wir diskutieren manchmal die Frage, warum aus dem weitreichenden Angebot Putins im Bundestag 2001 zur Zusammenarbeit eine heute in Teilen der medialen und politischen Elite erbitterte Feindschaft zwischen unseren beiden Ländern geworden ist.

Ich glaube, der Westen hat im Umgang mit Russland in den letzten 20 Jahren einen kardinalen Fehler gemacht, den der von mir geschätzte Historiker Herfried Münkler 2018 so auf den Punkt bringt:
Hat sich die Nato nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 zu forsch an die Westgrenze Russlands herangerobbt?

In dieser Zeit wurde gegen die Grundregel der Außenpolitik verstoßen, eigenes Handeln stets durch die Augen des Anderen zu betrachten. Man hätte dann früh gespürt, dass sich die Russen eingekreist fühlen.
In der Ukrainefrage agierte der Westen erneut naiv und war dann überrascht über die Reaktion der Russen. Sie hatten mit ansehen müssen, wie sie durch den Zerfall des äußeren Rings ihres Imperiums dramatisch an Einfluss an der Ostsee verloren. Ihnen blieb nur ein kleiner Zugang bei Kaliningrad und St. Petersburg. Das durfte sich aus russischer Sicht am Schwarzen Meer auf keinen Fall wiederholen. Bei nüchterner Betrachtung der Situation im Donbass und auf der Krim verhalten sich die Russen vielleicht taktisch offensiv, sicher nicht strategisch offensiv. Es ist der Versuch, einen Minimalbereich ihrer früheren Machtsphäre zu erhalten.
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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon Danny_1000 » 25. Dezember 2021, 12:41

Hier noch ein kleiner Nachtrag zur Rolle Europas im aktuellen Streit:
https://youtu.be/GaYkW6sVL4Q?t=4860
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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon Kumpel » 26. Dezember 2021, 11:00

Ich frage mich ob Frau Krone Schmalz ein ähnliches Verständnis für Briten und Franzosen für ihre Kolonialkriege aufbringt wie ihre unverkennbare Zustimmung für die russische Aussenpolitik gegenüber seinen Nachbarn im Westen.
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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon augenzeuge » 27. Dezember 2021, 17:53

Kumpel hat geschrieben:Ich frage mich ob Frau Krone Schmalz ein ähnliches Verständnis für Briten und Franzosen für ihre Kolonialkriege aufbringt wie ihre unverkennbare Zustimmung für die russische Aussenpolitik gegenüber seinen Nachbarn im Westen.


Nun ist ein Kolonialkrieg etwas anderes. Was mich bedenklich stimmt, ist die Argumentation Putins zur Krim. "War schon immer russisch...". [denken]

Dürfen wir jetzt Königsberg (Kaliningrad) bei gleicher Argumentation wieder bekommen? Immerhin wars seit 1255 germanisch/deutsch bis 1945.

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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon Ari@D187 » 27. Dezember 2021, 18:10

Bis 2014 behauptete Gorbatschow noch:
Deutschland, die Vereinigten Staaten und andere Staaten des Westens hätten ihm nach der deutschen Wiedervereinigung - also auch nach den Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 - versprochen, „dass die Nato sich keinen Zentimeter nach Osten bewegen würde“. Daran hätten sich die Amerikaner nicht gehalten, und den Deutschen sei es gleichgültig gewesen. Dies habe dazu geführt, so Gorbatschow, „dass die Russen westlichen Versprechungen nun nicht mehr trauen“.


Dann wechselte er 2014 die Richtung:
Er sei nach dem Mauerfall nicht über den Tisch gezogen worden, sagte Michail Gorbatschow: Ein Verzicht auf eine Nato-Osterweiterung sei keine Bedingung zur Wiedervereinigung gewesen.

-> Link

Vor zwei Tagen äußerte sich Gorbatschow mal wieder zu der Sache:

Im Westen habe nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 eine „triumphale Stimmung geherrscht“: Der frühere sowjetische Präsident Michail Gorbatschow wirft dem Westen nun vor, sich „arrogant und selbstgerecht“ verhalten zu haben. Das habe zur Erweiterung der Nato geführt.

-> Link

Was er auch früher in Bezug auf die NATO-Osterweiterung im Zusammenhang mit dem 2+4-Vertrag anführte ist:
„Der Warschauer Pakt existierte doch noch. Die Frage stellte sich damals gar nicht.“

Klingt erstmal logisch. Allerdings befand sich die Sowjetunion im September 1990 bereits im Zerfall und somit ist die Aussage Gorbatschows nicht nachvollziehbar.

Es wirkt geradezu absurd, wenn im 2+4-Vertrag zugesagt wird, auf dem ehem. Gebiet der DDR keine nichtdeutschen (NATO-)Truppen zu stationieren, wenn heute bereits absehbar ist, dass diese bald 450 Kilometer vor Moskau stehen. Das hätte Gorbatschow 1990 verhindern können, verhindern müssen, anstatt heute "dem Westen" vorzuwerfen sich „arrogant und selbstgerecht“ verhalten zu haben, was dann zur Erweiterung der Nato geführt habe.

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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon augenzeuge » 27. Dezember 2021, 19:37

Gorbi hat bei den Russen leider sehr wenig Rückhalt. Um es human auszudrücken.
Daher winken die bei der Argumentation gleich ab.

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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon Danny_1000 » 28. Dezember 2021, 15:47

augenzeuge hat geschrieben:Gorbi hat bei den Russen leider sehr wenig Rückhalt. Um es human auszudrücken.
Daher winken die bei der Argumentation gleich ab.

AZ

Hast Du vollkommen richtig erkannt. Und dafür werden Dir politisch interessierte Russen u.a. 2 Gründe nennen:
1. Sie machen ihn mitverantwortlich für das ökonomische Chaos in den 90-igern. Millionen von Menschenn hatten dort nichts zu essen ! Gorbi hatte keinen wirklichen Plan für das, was er Umgestaltung, also Perestroika, nannte und sein Nachfolger Jelzin im Suff den Durchblick verloren.
2. die Mehrheit der Russen macht ihn hauptvernatwortlich für den Zerfall der Sowjetunion, den Putin mal als die größte Katastrophe seines Landes bezeichnete.

Aber zurück zum Thema:
Das schrieb der SPIEGEL 2009:
Ein Diplomat des deutschen Außenamts sagt, natürlich habe es einen Konsens beider Seiten gegeben. In der Tat: Die Sowjets hätten sich wohl kaum auf die Zweiplus-Vier-Verhandlungen eingelassen, wenn sie gewusst hätten, dass die Nato später Polen, Ungarn und andere Länder Osteuropas aufnehmen würde.


Hier der ganze, lesenswerte Artikel:
https://www.spiegel.de/politik/absurde-vorstellung-a-a18a7cab-0002-0001-0000-000067871653
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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon Kumpel » 29. Dezember 2021, 15:47

Danny_1000 hat geschrieben:Gorbi hatte keinen wirklichen Plan für das, was er Umgestaltung, also Perestroika, nannte und sein Nachfolger Jelzin im Suff den Durchblick verloren.


Na ob das so historisch wasserdicht ist habe ich meine Zweifel.
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Re: Zwei-plus-Vier-Vertrag - Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?

Beitragvon augenzeuge » 29. Dezember 2021, 16:21

Mal ne geschichtliche Zusammenfassung, wasserdicht! [hallo]

Radikalumbau als Reaktion auf Krise

Vor genau 25 Jahren, am 27. Jänner 1987, hielt Michail Gorbatschow auf dem kommunistischen Parteitag eine folgenschwere Rede. Mit seinen Forderungen nach „Glasnost“ und „Perestroika“, also Transparenz und Umgestaltung, wollte der damalige Parteichef die angeschlagene Sowjetunion reformieren. Doch statt zu einer Modernisierung führte seine Reformpolitik zu einem Zusammenbruch des Regimes.

Anfang der 80er Jahre schlitterte die UdSSR in eine tiefe wirtschaftliche und soziale Krise. Um das wahnwitzige Wettrüsten mit den USA zu gewinnen, investierte die kommunistische Führung 40 bis 45 Prozent des Staatshaushaltes in Rüstung und Verteidigung. Zugleich litt die stark exportorientierte Wirtschaft der Sowjetunion unter Strukturproblemen und weltweit sinkenden Ölpreisen.

Zu der wirtschaftlichen Krise gesellte sich laut dem Historiker und Russland-Forscher von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wolfgang Mueller, auch eine politische. Denn die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern war mangelhaft. „Das langjährige, unausgesprochene Abkommen zwischen Bürgern und der Einparteiendiktatur - moderat steigender Wohlstand gegen Verzicht auf politische Mitsprache - funktionierte nicht mehr. Die Menschen waren zunehmend unzufrieden“, so Mueller.

Alkoholmissbrauch „erschreckend hoch“
Das führte zu einem weiteren - volkswirtschaftlich unerwünschten - Nebeneffekt: Weite Teile der Bevölkerung griffen in ihrem Unmut zur Flasche. „In der 1980er Jahren erreichte der Alkoholmissbrauch ein erschreckendes Ausmaß. Chronische Alkoholerkrankungen nahmen zu, es kam zu zahlreichen Arbeitsausfällen und einem Rückgang der Produktivität“, so der Politologe und Russland-Experte der Universität Innsbruck, Gerhard Mangott, zu ORF.at.

Zu allem Überfluss war die politische Führung in Moskau jahrelang gelähmt. Nach dem Siechtum der Staatschefs Leonid Breschnew, Juri Andropow und Konstantin Tschernenko kam erst 1985 mit Michail Gorbatschow ein Mann an die Macht, der gesund und zu nötigen Reformen entschlossen war.

Als seine anfänglichen Appelle an eine höhere Arbeitsdisziplin keine Wirkung zeigten, entschloss sich Gorbatschow zu drastischeren Maßnahmen. Bei einer Rede vor dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei am 27. Jänner 1987 sprach der De-facto-Herrscher der Sowjetunion nicht nur ein Alkoholverbot aus, sondern forderte auch den radikalen Umbau des wirtschaftlichen und politischen Systems der UdSSR.

„Perestroika“ hieß von da an das Stichwort, unter dem Gorbatschow den Kommunismus von innen heraus reformieren wollte. „Sein wirtschaftliches Konzept sah mehr Autonomie für Betriebe und eine Umstellung auf wirtschaftliche Rechnungsführung vor. Zudem sollte es Leistungsanreize geben, etwa in Form von höheren Gehältern. Weitere Punkte waren die Dezentralisierung der Planung und die Erlaubnis ausländischer Investitionen“, so Mueller.

Gorbatschow trat bei seiner Rede auch mit dem Satz an, sein Land brauche die Demokratie „wie die Luft zum atmen“. Durch sanfte Reformen wollte er dem Kommunismus neues Leben einhauchen. Trotz freier Wahlen, der Einführung einer Gewaltenteilung und dem Ausbau des Rechtsstaates sollte aber die privilegierte Stellung der Kommunistischen Partei erhalten bleiben.

Außenpolitisch setzte Gorbatschow auf eine Politik der Entspannung. In seiner Regierungszeit beendete er das atomare Wettrüsten mit den USA, entließ die Warschauer-Pakt-Staaten einschließlich der DDR in die Freiheit und ermöglichte so erst die deutsche Wiedervereinigung und das Ende des Kalten Krieges.
„Da er wusste, dass er all das nur schwer gegen die konservativen Kräfte in seiner Partei durchsetzen konnte, brauchte er die Unterstützung der Öffentlichkeit“, so Mangott. Also habe sich Gorbatschow neben der „Perestroika“ zu einem zweiten, großen Reformschritt entschlossen: der Aufhebung der Einschränkung von Meinungs- und Pressefreiheit unter dem Schlagwort „Glasnost“ (dt. Offenheit).

Plenarsitzungen wurden künftig live übertragen, neue Medien wurden gegründet, und kritische Köpfe hielten Einzug in die Redaktionsstuben. „Die uniforme, langweilige Zeitungslandschaft begann sich zu bewegen, es kam zu einer Blüte des öffentlichen Diskurses“, so der Historiker Mueller.

Der Parteichef benannte zudem in einer ungewohnten Offenheit die Fehltritte seiner Vorgänger, etwa das Massaker an Tausenden polnischen Offizieren 1940 in Katyn. „Geschichtsprüfungen wurden ausgesetzt, weil man sich auf keine Lehrbücher mehr einigen konnte. Jeden Monat gab es neue Enthüllungen über Verbrechen der stalinistischen und sowjetischen Führung“, so Mueller.

Mittelfristig führte diese neue Offenheit laut Mueller aber zu einer Diskreditierung der gesamten Partei. Und auch der Politologe Mangott spricht im Zusammenhang mit „Glasnost“ von einer „riskanten Strategie“: „Wenn ich den Bürgern und Medien die Möglichkeit gebe, sich frei zu äußern, dann muss ich auch damit rechnen, kritisiert zu werden.“

Der wegen seiner Reformankündigungen von der Bevölkerung anfangs gefeierte Gorbatschow bekam so bald selbst den Druck der neuen Öffentlichkeit zu spüren. Denn seine wirtschaftlichen Reformen kamen zu langsam, zu zögerlich, und zeigten nicht die gewünschten Wirkungen. Die Wirtschaftsleistung brach weiter ein, die Versorgungslage wurde schlechter, die Reallöhne sanken, ausländische Investoren blieben aus, der Staat ging pleite.

Die Stimmung kippte. Eineinhalb Jahre nach seiner Parteitagsrede machten die Menschen ihrem Ärger Luft. Es kam zu Demonstrationen, Generalstreiks und medialen Attacken gegen Gorbatschow. Gleichzeitig verstärkte sich auch der Widerstand innerhalb seiner eigenen Partei. „Die konservativen kommunistischen Kräfte warfen ihm Destabilisierung vor und machten ihn für den Verlust der Autorität der Partei verantwortlich“, so Mangott.

Die reformfeindliche sowjetische Machtelite hatte genug von „Perestroika“ und „Glasnost“ und startete im August 1991 einen Putsch. Doch die Verschwörer scheiterten, da sie zwei Dinge unterschätzt hatten: die Moskauer Bevölkerung, die ihre Angst verloren hatte. Und den Elan von Boris Jelzin. Der Radikalreformer, der erst wenige Wochen zuvor zum russischen Präsidenten gewählt worden war, stellte sich den Konservativen in den Weg.

Mit dem Putsch war die Macht endgültig an Jelzin gefallen, Gorbatschow trat am 25. Dezember 1991 zurück. „Ein großer Staat hat aufgehört zu existieren“, klagte der ehemalige Staatsführer in seiner Abschiedsrede. Das kommunistische Regime und mit ihr die ehemalige Supermacht Sowjetunion ging damit nach 70 Jahren zu Ende.

Heute meldet sich Gorbatschow erneut mit Kritik an der Lage in Russland zu Wort. Bei einem seiner letzten öffentlichen Auftritte warf er Putin vor, ein Machtmonopol wie zu Sowjetzeiten geschaffen zu haben. In den jüngsten Massenprotesten gegen die herrschende Elite in Moskau sehe er die Chance für einen neuen Aufbruch, so der mittlerweile 80-jährige Gorbatschow. Die Zeit sei jetzt reif, seine Politik der „Perestroika“ und „Glasnost“ zu Ende zu führen.

Thomas Hadinger, ORF.at
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