Selbstmorde in der ehem. DDR

Alle Themen die eine Bezug zur Wende und Grenzöffnung haben. Persönliche Erlebnisse, Gedanken aus dieser Zeit, Dokumente und ähnliches.

Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon Werner Thal » 19. August 2020, 08:59

DER SPIEGEL 11/1991 Selbstmorde Feuerwasser der Weißen

In den östlichen Ländern nehmen sich viele Menschen aus Existenzangst das Leben.

Der Mann hatte es zum Leiter seiner Arbeitsbrigade in einem Leipziger Holzbetrieb gebracht. Auf diesem Posten
hielt er sich für unentbehrlich, daran konnte auch die Wende nichts ändern. Sein Lebenslauf schien von der Schule
bis zur Rente vorgezeichnet.
Dann kam der Bruch. Der Brigadier wurde in den Vorruhestand versetzt, ohne Warnung oder Absprache. Für die
Firmenleitung war dieser Fall kein Problem: schließlich besaß der Mann ein Haus, und seine Frau hatte noch ihre
Arbeit. Für den Abgeschobenen war es das Ende: Der 60jährige nahm sich das Leben, kurz nachdem er seinen
Arbeitsplatz geräumt hatte.
Seit der Wandel der ehemaligen DDR überall in Auflösung mündet, sieht eine wachsende Zahl von Menschen nur
noch im Tod einen Ausweg aus der Krise. Die Psychiaterin Gisela Ehle, die an der Charité im Ostteil Berlins
selbstmordgefährdete Patienten betreut, kommt bereits zum Schluß: "Das Gefühl der Hilflosigkeit ist wie eine
Epidemie."
Zwar läßt sich die jüngste Entwicklung noch nicht mit länderweiten Daten belegen: Die neugegründeten statistischen
Landesämter-Ost stellen derzeit gerade die Suizidzahlen des vergangenen Jahres (1990) zusammen. Aber Kriminalisten,
Ärzte und Psychologen, die unmittelbar mit Lebensmüden zu tun haben, beobachten überall im östlichen
Deutschland einen starken Anstieg der versuchten oder vollendeten Selbsttötungen, die als Reaktion auf sozialen
Absturz zu werden sind.
Die Leipziger Kreispolizei beispielsweise registriert seit einigen Monaten eine extreme Zunahme von Selbstmorden,
denen Arbeitslosigkeit oder Existenzangst zugrunde liegen. Hauptkommissar Hannes Bauer, 60, der mit einer
Arbeitsgruppe "Unnatürliche Todesfälle" seit 1982 neben Unglücken auch Suiziden nachgeht, spricht von einer
"deutlichen Verschiebung" der Motive": Die Zahl derer, die den Tod als Ausweg aus sozialen Problemen suchen,
sei im Vergleich zu den Jahren vor der Wende "um mehr als das Zehnfache" gestiegen.
Blanke Armut ist nach Erkenntnissen der Leipziger Polizei-Arbeitsgruppe zur Zeit noch die Ausnahme. Häufiger
werden dagegen in den vorliegenden Abschiedsbriefen ganze Bündel von Problemen sichtbar: Wer etwa
alkoholsüchtig und schon dadurch überproportional selbstmordgefährdet ist, sagt Hauptkommissar Bauer,
"der wird auch eher auf die Straße gesetzt".

https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery ... f/13488238

W. T.
Wer einen Rechtschreibfehler findet, darf ihn behalten.
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Re: Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon augenzeuge » 19. August 2020, 11:11

Wieviele Leute haben sich eigentlich umgebracht, weil sie im alten System arg verstrickt waren bzw. ihnen eine Verurteilung drohte? Also, Militär, Regierung, MfS...

AZ
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Re: Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon Volker Zottmann » 20. August 2020, 09:10

Im Raum QLB gab es auch Selbsttötungen.
Da hat sich ein LPG-Chef erschossen, ich berichtete schon mal....
Ein anderer hoher Genosse fiel zufällig vom Ballkon mit tödlichem Ausgang.
Im Nachhinein betrachtet immer sinnlos, weil ohnehin keiner verurteilt wurde und nachtragende Nachbarn ohnehin irgendwann verstummen. Im Moment der Hilflosigkeit scheint es aber für Wankelmütige doch nur der einzig mögliche Ausweg sein, um sofort dauerhaft Ruhe zu finden.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon Klaus B. » 20. August 2020, 19:36

Vor einigen Jahren habe ich schon mal zu diesem Thema geschrieben, weil eine Studienfreundin ihre Diplomarbeit (Dipl.-Med.) am Gerichtsmedizinischen Institut der damaligen Medizinischen Akademie Magdeburg geschrieben hat. Alle diesbezüglichen Zahlen und Daten waren geheim, das weiß ich durch die Kollegin von damals genau. Welche Untersuchungen in welchem Zusammenhang untersucht worden sind, wurde nie bekannt. Schließlich hat die Kollegin ihre Arbeit mit bestem Erfolg verteidigt, allerdings nicht öffentlich...

In den Jahren 1986 bis 1990 habe ich durch meine Diensttätigkeit als sog. DMH-Arzt mehrfach mit Suiziden zu tun gehabt. Am Auffindungsort, der stets durch einen ABV o.ä. abgesichert worden ist, musste immer gewartet werden, bis die "Kriminalpolizei" aus der Bezirksstadt Schwerin vor Ort war. Totenscheine wurden oft mehrere Tage nach dem Geschehen von mir in der Klinik (meinem damals üblichen Arbeitsort) schon fertig ausgefüllt während eines "Besuches der K unterschrieben und abgestempelt...

VG Klaus B.
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Re: Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon Beethoven » 27. August 2020, 14:45

Für viele Menschen aus der damaligen DDR war die Wende, verbunden mit dem Verlust der Existenz, eine Zäsur im Leben.

Psychologisch nicht so sehr gefestigte Menschen oder gerade "Hartliner" verstanden die Welt nicht mehr und sahen keine Chance in dem neuen System. So kam es durchaus zu Selbsttötungen in vielen Kreisen.

Ich möchte da die Familie Göbels genauso sehen wie den Admiral Kutzschebauch (vormals Chef der GST) dessen Selbstmordversuch allerdings schief ging und er erst nach Jahren daran verstarb.
Eigentlich ein sehr netter und freundlicher Mensch. Ich bedauere ihn nach heute.

Freundlichst
Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat ein gebildeter Soldat. J. W. v. Goethe

Das Gesetz ändert sich, die Gesinnung nicht.
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Re: Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon OaZ » 27. August 2020, 14:53

Klaus B. hat geschrieben: ... Totenscheine wurden oft mehrere Tage nach dem Geschehen von mir in der Klinik (meinem damals üblichen Arbeitsort) schon fertig ausgefüllt während eines "Besuches der K unterschrieben und abgestempelt...

VG Klaus B.


Waren das Anweisungen/Befehle? Wenn ja, von wem wurden sie dir übermittelt?
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Re: Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon Klaus B. » 28. August 2020, 06:13

Es erschienen zivil gekleidete Männer in unserer Klinik, die den Totenschein zur Unterschrift mitbrachten.

VG Klaus B.
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Re: Selbstmorde in der ehem. DDR

Beitragvon Volker Zottmann » 28. August 2020, 13:38

Klaus B. hat geschrieben:Es erschienen zivil gekleidete Männer in unserer Klinik, die den Totenschein zur Unterschrift mitbrachten.

VG Klaus B.

Das war DDR-Live! [sick]

Gruß Volker
Volker Zottmann
 


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