Wo aus Osten Westen wird

Alle Themen die eine Bezug zur Wende und Grenzöffnung haben. Persönliche Erlebnisse, Gedanken aus dieser Zeit, Dokumente und ähnliches.

Wo aus Osten Westen wird

Beitragvon Werner Thal » 13. August 2020, 16:01

Wo aus Osten Westen wird - Die Wende - 9.9.2004 - 15 Jahre danach

Teil I

In Schlutup fand 1989 für ein paar Tage Weltgeschichte statt. Doch zum Nabel der Welt wurde der
Lübecker Stadtteil nicht. Er liegt heute fast so abgeschrieben am Ostrand der Stadt wie vor dem
großen Ansturm der DDR-Bürger.

"Ein bisschen Ernüchterung ist eingekehrt", sagt Jürgen Schreiber (58), Vorsitzender des Gemeinnützigen
Vereins Schlutup, 15 Jahre nach jenem November-Abend, der bis dahin behagliche Lübecker Stadtteil für
eine Nacht Weltgeschichte schrieb. Beige und himmelblaue Trabis mit DDR-Bürgern schoben sich in
jener Nacht von Selmsdorf nach Schlutup, vorbei an irritierten und vergeblich protestierenden Vopos.
Wessis trommelten vor Freude auf die Plaste-Dächer, reichten Bananen und Schokolade und Rosen in
die stinkenden Zweitakter, die plötzlich nach Freiheit dufteten. Ossis weinten vor Freude. Der Kalte Krieg,
er endete zuerst auch in Schlutup.
Nein, der große Boom in Einzelhandel, den sich viele damals erhofft hatten, nein, der große Aufbruch
hat in diesem Lübecker Stadtteil (6000 Einwohner) niemals stattgefunden. Was ist geblieben? "beinahe nichts",
sagt Schreiber. Ein paar wiederbelebte Kontakte, ein paar neue Freundschaften natürlich zwischen den
Menschen hüben und drüben. Und eine neue Himmelsrichtung mit einem Gewerbegebiet gleich hinter der
Landesgrenze zu Mecklenburg-Vorpommern.

Aber sonst? In Schlutup gibt (gab) es einen Schlecker-, einen Plus- und einen Skymarkt, zwei Dönerimbisse
und beinahe benachbart zwei Griechen. Das Feuerwehrhaus und die Kirche stehen mitten im Dorf, das
Schwimmbad ist frisch saniert. Ins alte Zollhaus zieht demnächst ein Museum, die Renovierung läuft.
Im Schaukasten des Sportvereins an der Sparkasse prangen Fotos von den erfolgreichen Jugendsportlern
und der Hinweis auf den baldigen Laternen- und Fackelzug von TSV und Siedlergemeinschaft. Der Hafen
boomt, es gibt reichlich Betriebe vor allem in der fischverarbeitenden Industrie. an der Spitze einer der
bundesdeutschen Marktführer: Hawesta.

Das klingt nach heiler Welt, nach Idylle. Aber die Fassade täuscht. Alteingesessene Geschäfte mussten
in den vergangenen Jahren aufgeben in einem Dorf, das von Lübeck über viele Jahrzehnte autark schien:
Die Schlachterei Arendt hat geschlossen, der Lebensmittelhändler Rascher, der Bäcker Schümann, das
Textilhaus Kanüle, die Schlachterei Schmidt. Auch der Lebensmittelkonzern Kühne hat den Standort Schlutup
aufgegeben, sucht für seine Industriebrache einen neuen Eigentümer. "Nicht gut", sagt Schreiber, "irgendwie
gehörten sie alle zum Dorf dazu."

Aber die Pendler von Ost Und West, die fahren eben nur durch. Die meisten halten nicht an", weiß Schreiber.
Er und seine Schlutuper wollen diese ungebetenen Gäste nicht mehr haben. Auf Mecklenburger Seite wurde
kürzlich ein Verkehrsschild aufgestellt, das die Nachtdurchfahrt verbietet. Der Selmsdorfer Bürgermeister
Detlev Hizigrat hat dagegen protestiert, droht mit einer Klage: Neue Mauern würden die Schlutuper hochziehen.

W. T.
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Re: Wo aus Osten Westen wird

Beitragvon Werner Thal » 13. August 2020, 16:40

Wo aus Osten Westen wir - 8.9.2004. Die Wende - 15 Jahre danach

Teil II

Schreiber sehnt den Endausbau der Umgehungsstraße entgegen. "15 Jahre danach wird es endlich
Zeit, das Provisorium zu überwinden", sagt er. Denn derzeit schiebt sich - Verbot hin, Verbot her -
tags und nachts immer noch eine kleine Blechlawine durch den Ort. "Die Straßen sind kaputt, und
nun sollen allein unsere Anlieger dafür bezahlen", empört sich Schreiber. Von Bund und Land fühlen
sich die Schlutuper allein gelassen. Kann man für ein Stückchen Weltgeschichte nicht ein bisschen
Dankbarkeit erwarten?

Szenenwechsel. Die Sträßchen heißen Dassower oder Schöneberger Weg. An der Landesgrenze oder
Voßbergbogen. Wie Salatgurken ranken sie in Schlutup entlang der ehemaligen Grenze zur DDR.
Die meisten Häuser hier stammen aus den 50er und 60er Jahren, doch auffällig viele sind renoviert
oder haben einen Anbau. "In der Siedlung findet ein Generationswechsel statt", erklärt Schreiber.
Eine, die geblieben ist, ist Elisabeth Rother. Die 82-Jährige vom Voßbergbogen, Haus Nummer 9,
sitzt in ihrem Garten, der an den ehemaligen Todesstreifen grenzt. Zwei alte Apfelbäume krümmen
sich dort unter der Last von Früchten und Geschichte, ein paar Reihen Erdbeerpflanzen liegen verdorrt
da. Einen sechs Meter breiten Streifen am Fuße ihres Grundstücks habe man ihr damals weggenommen,
sagt die Rentnerin. Irgendwann in den 60er Jahren. "Für einen Fußweg, damit unser Grenzschutz
patrouillieren kann". Immerhin haben sie den Zaun dafür bezahlt bekommen. Der brusthohe Maschen-
drahtzaun ist inzwischen zurückversetzt. Denn hier patrouilliert keiner mehr. "Nur die Birken auf
Mecklenburger Seite machen Ärger, das Laub, so ein Dreck", schimpft die Hausbesitzerin. "Kümmert
sich doch keiner drum!"

Zwischenfälle, nein, die habe es nicht gegeben. Und dann erzählt Elisabeth Rother doch eine kleine
Anekdote. Es war in der Zeit der Ostverträge und von Willy Brandt, als ein DDR-Grenzer an ihren Zaun
trat und nach den "Lübecker Nachrichten" fragte. "Wir wollen wissen, was der Westen schreibt", habe
der Vopo gesagt. Mit einem Sprung über den Zaun wäre er im Westen gewesen. "War wohl doch zu
gefährlich", erinnert sich die Rentnerin. Wenige Meter hinter dem Soldaten habe ein zweiter bewaffneter
DDR-Grenzer gestanden. Helfen konnte sie dem Mann nicht. "Wir hatten damals noch Ofenheizung, die
Zeitung war schon verbrannt", sagte sie.

Gisela Schwarz (58) legt eine frische Bratwurst auf den Grill. Die Inhaberin der "Grünen Bude" steht seit
fast 30 Jahre an ihrem Imbiss an der Mecklenburger Straße, der zugleich Kiosk und am Ortseingang West
eine Pilgerstätte für Trucker ist. Ruhiger geworden sei es, klar. Bei Grenzöffnung habe es noch einen
Extra-Parkplatz vor ihrer Tür gegeben, eine Extra-Buslinie, sagt Schwarz. Für die Scharen Neugieriger aus
Mecklenburg. Aber sie könne auch heute nicht übers Geschäft klagen. "Ich habe viele Stammkunden aus
dem Osten." Auch die Pendler, die merke sie schon. Montags und freitags, da laufe ihr Laden ganz besonders
gut. Da ist sie also: eine Schlutuperin, Gewinnerin der Wende. 15 Jahre danach.

Bardowieck, Kreis Grevesmühlen

W. T.
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Re: Wo aus Osten Westen wird

Beitragvon Interessierter » 13. August 2020, 18:31

Hallo Werner, vielen Dank für die beiden interessanten Berichte.
Interessierter
 

Re: Wo aus Osten Westen wird

Beitragvon Werner Thal » 13. August 2020, 18:53

Am 12. November 2016 war ich zuletzt in Schlutup. Anlass war für mich, noch einmal die Grenzöffnung
1989 nachzuempfinden. Ein Besuch des kleinen Grenzmuseums und der ehemaligen Grenze gehörten
zu meinem Programm. Aber auch die vorhandene Infrastruktur anzusehen gehörte dazu.

Am 12. November 1989 waren wir zu Fuß von Selmsdorf zum Marktplatz nach Schlutup gegangen.
Dort war spontan eine Shuttlebusverbindung zur Lübecker Innenstadt eingerichtet worden.
Um Mitternacht waren wir dann wieder zu Hause angekommen. Ein unvergessener Sonntagsausflug!
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