Erinnerungen an die Wende 2.0
Verfasst: 6. Juni 2020, 07:16
MEINE ERSTE BEWERBUNG NACH DER WENDE
In der DDR hatte ich mich während des Fernstudiums bei einem Kombinat als Schichtleiter in der Datenverarbeitung beworben. Die Bewerbung war relativ einfach, ein kurzer Anruf, ein kleines Vorstellungsgespräch, und da die Firma von Staats wegen eine höhere Priorität hatte als mein bisheriger Arbeitgeber, stand dem Wechsel nichts im Wege. Schriftliche Bewerbungen waren selten nötig. Kurz vor dem Ende des Fernstudiums arbeitete ich dann in der selben Firma als Systemprogrammierer.
Als mit der Wende klar wurde, dass die meisten Kombinate als solche die Umstellungen in der Wirtschaft nicht überleben würden, engagierte der Chef jemanden, der den Leuten in einem Kurzlehrgang beibringen sollte, wie unter den neuen Bedingungen Bewerbungen auszusehen hatten. Er ging auf das Anschreiben ein, den Lebenslauf, die Zeugnisse, und was alles noch dazu gehörte. Die Zeugnisse waren natürlich auf DDR-Belange zurechtgestutzt, sie enthielten wenig Fachliches, aber viel über das politische Engagement. Ob das unbedingt so gefragt war? Hinsichtlich des Vorstellungsgespräches ging der Mentor auf unterschiedlichste Arten von Tests ein, und er betonte, dass man sich nicht jede Arbeit andrehen lassen sollte, die einem bei diesem Gespräch angeboten wurden, da das den Eindruck erweckte, man wolle irgend eine Arbeit um jeden Preis. Nach der Kombinatsauflösung fand ich dann noch eine Arbeit in meiner Heimat, aber auch hier war abzusehen, dass es nicht lange gut ging. So bewarb ich mich als EDV-Anwendungsentwickler in den alten Bundesländern. Ich wollte zwar gern als Systemprogrammierer weiter arbeiten, aber diese Stellen waren offenbar sehr rar gesät. Ich hatte 15 Bewerbungen abgeschickt.
Meine Bewerbungen im privaten Sektor wurden allesamt gleich abgelehnt. Von einer Berufsgenossenschaft in Oberbayern erhielt ich drei Terminvorschläge zu einem Einstellungsgespräch. Allerdings machten mir dabei die Postlaufzeiten einen Strich durch die Rechnung. Als ich die Einladungen erhielt, waren die Termine bereits verstrichen. Über die ehemalige innerdeutsche Grenze waren unmittelbar nach der Wende Postlaufzeiten von zwei Wochen noch immer keine Seltenheit. Ein öffentlicher Arbeitgeber aus dem Rhein-Main-Gebiet lud mich ebenfalls zu einem Vorstellungsgespräch ein, überließ jedoch mir die Initiative zur Terminabsprache. Wegen des Reichsbahnerstreiks Anfang Dezember war dieser Brief drei Wochen unterwegs, und bis ich eine Telefonverbindung von Anhalt nach Hessen zustande brachte, vergingen nochmals zwei Tage. In jener Zeit waren immer noch sehr wenige Leitungen aus den neuen Bundesländern geschaltet, so dass die Vorwahl oft besetzt war. Am 21.12.90 konnte ich dann aber den Termin für das Vorstellungsgespräch im neuen Jahr festmachen.
Vor dem Termin rekapitulierte ich noch mal, was ich inzwischen über Vorstellungsgespräche gelernt hatte. Leicht nervös betrat ich dann den Raum, in dem mich zwei der eventuellen zukünftigen Chefs und ein Personalratsmitglied empfingen. Die erste Frage nach der Vorstellungsrunde war natürlich, warum ich mich so spät auf die Einladung gemeldet hatte. Ich erwähnte den Reichsbahnerstreik und beendete die Antwort damit, dass "das Schreiben so gewissermaßen unter dem Weihnachtsbaum lag". Nach einigen der üblichen Erklärungen und Fragen hieß es plötzlich: "Sie haben Erfahrungen als Systemprogrammierer. Wir würden Sie gern auf diesem Gebiet einsetzen." Da erinnerte ich mich an die Ausführungen des Bewerbungsmentors, und es lief mir heiß den Rücken hinunter. Einesteils wollte ich diese Tätigkeit sehr gern weiter machen, aber konnte ich hier jetzt so einfach umschwenken? Meine Gegenüber bemerkten meine Unsicherheit und ließen das Thema zunächst offen. Nach der Verabschiedung verbreitete einer der Gesprächspartner inoffiziell mir gegenüber Optimismus hinsichtlich der Einstellung.
Nun musste ich noch anderthalb Monate wegen des innerbetrieblichen Prozederes warten, bis die Einstellung zugesagt war und mein erster Arbeitstag begann. Inzwischen stand fest, dass ich als Systemprogrammierer beginnen würde, und ich wurde mit offenen Armen empfangen. Glücklicherweise hatte ich nur mit äußerst wenig Vorurteilen über Ostdeutsche zu kämpfen, die auch bald verstummten. Die Firma unterstützte mich sehr bei der Wohnungssuche, und dem Nachzug meiner Familie stand nun nichts im Wege. Auch deren Eingewöhnung verlief reibungslos. Uns standen nun viele glückliche Jahre bevor.
http://www.ddr-zeitzeugen.de/html/meine ... rbung.html
Immer wieder interessant, die unterschiedlichen Erlebnisse der Menschen in der Wendezeit. Warum streikten denn eigentlich die Reichsbahner damals?