Bei Dirk Kampling, geboren am 9. November, weckte die Maueröffnung Ängste statt Freude. Denn sein Vater, seine Mutter, sein Bruder und er selbst waren politisch inhaftiert - in der BRD und in der DDR.
Als die Mauer fiel, freute ich mich nicht. Dabei war der 9. November 1989 zugleich mein 32. Geburtstag. Ich wurde 1957 in Lutherstadt Eisleben in Sachsen-Anhalt geboren und erlebte die Wiedervereinigung aus der Ferne bei Freunden in London. Wir sahen BBC.
Meine britischen Gastgeber waren gerührt. Ich nicht.
Ich glaubte damals, diese Demütigung DDR endlich hinter mir gelassen zu haben. Schon beim Schreiben der drei Buchstaben "DDR" hatte ich stets einen Widerwillen empfunden. Das Leben in meiner sächsischen Provinz, gekoppelt an diesen Staat, war kränkend. Irgendetwas fehlte. Und irgendetwas war immer zu viel.
Jetzt fühlte es sich so an, als hätte ich die DDR zurück, mit all ihren Kadern. Ich war froh, nicht in Berlin zu sein. Meine Mutter rief mich an, um mir zu gratulieren. Das Unbehagen, das mich beim Mauerfall beschlich, lässt sich nicht ohne ihre Biografie und die Geschichte meiner Familie verstehen. Als Notfallseelsorger behandle ich akute Traumata. Meine Familie hingegen fühlte sich über Generationen emotional chronisch zerrissen zwischen Ost und West.
Meine Mutter Brigitte wurde 1934 in Gladbeck im Ruhrgebiet als fünftes von 13 Kindern einer Bergarbeiterfamilie geboren. Ihre Eltern waren katholisch, aber in der KPD. Sie erlebte als Kind die Flächenbombardierungen und wurde mehrfach evakuiert, nach Bayern, Österreich, Schlesien. 1945 kam die Rote Armee. Meine Mutter war elf, als ihre Pflegemutter vergewaltigt wurde. Sie begann, nachts wieder einzunässen.
Ein paar Jahre später ging mein Vater Harry von Berlin ins Ruhrgebiet. Dort lernte er mit 19 meine noch 15-jährige Mutter kennen. Beide waren Mitglieder der DDR-Organisation Freie Deutsche Jugend (FDJ), die in Westdeutschland als verfassungsfeindliche Organisation verboten war. 1953 wurde mein Vater deshalb zu einem Jahr Haft verurteilt, die er in Dortmund absaß.
Als meine Mutter 1954 schwanger wurde, heirateten meine Eltern, im Juli 1955 kam mein Bruder Gerd zur Welt. Doch nur Monate später erwischte es meine Mutter. Nun wurde sie als vermeintliche "Rädelsführerin" der FDJ zu acht Monaten verurteilt, weil sie Ferienaufenthalte westdeutscher Kinder in der DDR organisiert hatte. Die Strafe wurde ausgesetzt, da mein Bruder noch ein Baby war.
"Brutal von den Kindern getrennt"
So entschieden sich meine Eltern für eine Zukunft in der DDR und zogen 1956 nach Lutherstadt Eisleben. Mein Vater wurde Mitglied der SED, meine Mutter nicht. Als sie drei Jahre später ihre Eltern in Gladbeck besuchen wollte, fanden Beamte des Bundesgrenzschutzes ihren Namen auf alten Fahndungslisten. Meine Mutter verbüßte vier Monate der Haft in Essen. "Brutal wurde Frau Kampling von ihren zwei Kindern getrennt", schrieb damals das SED-Zentralorgan "Neues Deutschland". "Die Kinder wurden in ein Heim gesteckt."
Zurück in der DDR geriet meine Mutter auch dort mit dem Staat in Konflikt. Nach dem Mauerbau 1961 nötigte man sie, die DDR-Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ihr Vater starb 1967 im Westen. Obwohl er Kommunist gewesen war, durfte er seine Tochter in der DDR vor seinem Tod nicht noch mal besuchen, und sie an seiner Beerdigung nicht teilnehmen.
Begann damit der Wandel meiner Mutter, einst selbst eine überzeugte Kommunistin? Bevor sie in die DDR kam, konnte sie zwischen Familie und Partei schlecht trennen. Sie musste dann aber schmerzhaft erfahren, dass die DDR auch kommunistische Familien durchtrennte.
Die sozialistische Realität löschte langsam ihre Ideale. Ich erlebte sie nur noch als einen Menschen, der die alten Genossen des Ruhrgebietes bedauerte - und den erlebbaren Sozialismus desillusioniert verachtete.
Mein Vater wiederum wandelte sich vom Hüttenmann und studierte ab 1964 Literatur in Leipzig. Danach arbeitete er erst an einem Theater und wurde später ein gefeierter Buchautor. Er gab 1981 seinen ersten Roman "Der Mann aus der Siedlung" heraus und wurde Mitglied des Schriftstellerverbandes der DDR.
https://www.spiegel.de/geschichte/mauer ... 94935.html
AZ