Die einmalige Doppeldemonstration von SchwerinNach diesem spannungsgeladenen Oktoberwochenende in Schwerin blicken alle am Montag nach Leipzig. Die große Massendemonstration bleibt friedlich. Der 9. Oktober gibt der Bürgerbewegung Auftrieb. Ein Koordinationsausschuss des Neuen Forums entsteht. Die Arbeitsgruppen entsenden Vertreter zu Treffen im Keller der Paulskirche. Am 18. Oktober fällt dort der Beschluss, am kommenden Montag eine Kundgebung auf dem Alten Garten zwischen Theater und Schloss zu veranstalten.
Was folgt, ist eine in der DDR beispiellose Aktion der SED-Bezirksleitung Schwerin und ihres 1. Sekretärs Heinz Ziegner. Der blasse, abgehobene Apparatschik, so beschreiben ihn Schweriner SED-Kreisleitungsmitglieder später im NDR-Hörfunk, wittert seine große Karrierechance. Egon Krenz hat Erich Honecker am 18. Oktober an der Spitze der SED verdrängt. Der hat den Dialog mit dem Volk ausgerufen und die Wende beschworen. Heinz Ziegner fühlt sich bemüßigt, die Demonstration des Neuen Forums zu kapern, um damit die Meinungshoheit auf der Straße zu gewinnen. Er will am 23. Oktober zur gleichen Zeit am gleichen Ort wie das Neue Forum eine Kundgebung abhalten. Er ruft die Bezirkseinsatzleitung zusammen, im Krisenfall das höchste Parteigremium für die Region. Unter seiner Führung müssen alle Sicherheitsorgane bis hin zu den Kampfgruppen de facto seinem Befehl gehorchen.
Militärisch organisiert heißt die Aktion »Offensive«: »Unter maßgeblicher Führung feindlich-klerikaler und weiterer exponierter [Kräfte] des poli tischen Untergrundes planen oppositionelle Kräfte der Sammlungsbewegung Neues Forum zum gleichen Zeitpunkt eine Demonstration mit mehreren Tausend Beteiligten in der Schweriner Innenstadt mit dem Ziel, die Öffentlichkeit mit den provokatorischen Forderungen des Neuen Forums zur Destabilisierung der Arbeiter- und Bauernmacht zu konfrontieren und eine großangelegte Flugblattaktion durchzuführen.« Der abgehobene Parteifunktionär glaubt tatsächlich, dass es ihm gelingt, das Neue Forum kaltzustellen. Er riskiert eine gewalttätige Konfrontation mitten in Schwerin. Die Bürgerbewegung registriert die Vorbereitungen und sucht nach einer Deeskalationsstrategie. Derweil läuft der Apparat auf Hochtouren. Stasiminister Erich Mielke hat Kenntnis von dem Vorhaben. Die Kampfgruppen der Betriebe sind in Bereitschaft, die SED-Aktion soll unter dem pseudodemokratischen Deckmantel der Nationalen Front stattfinden, dazu werden alle Blockparteien neben der SED instruiert. Am Wochenende vor dem 23. Oktober wird in der Sport- und Kongresshalle ein Treffen mit Betriebsdirektoren und Verwaltungsleitern abgehalten. Dutzende Busse werden akquiriert und die Betriebsorganisationen der SED aus dem gesamten Bezirk Schwerin mobilisiert. Sie sollen ihre Genossen und leitenden Mitarbeiter mit nach Schwerin bringen.
Auf dem Hof der Kasernen in der Johannes-Stelling-Straße werden LKW mit Schiebeschilden ausgerüstet, wie sie von der chinesischen Führung im Juni bei der brutalen Räumung des Platzes des Himmlischen Friedens gegen Studenten eingesetzt worden sind. In den großen Partei- und Polizeigebäuden der Stadt werden bewaffnete Truppen stationiert. Ein Kompaniechef der Bereitschaftspolizei berichtet von der aggressiven Stimmung im Arsenal am Pfaffenteich, dem Sitz der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei. Unbekannte Uniformierte hätten vereinzelnd gefordert, die Einheit mit Langwaffen, also mit Maschinengewehren, auszurüsten. Die Polizeikommandeure weigern sich, sie bestehen darauf, dass die Ausrüstung mit Polizeipistolen zur Eigensicherung ausreicht. Vertreter des Neuen Forums, die vom ganzen Ausmaß des Gewaltpotenzials nichts mitbekommen, versuchen mit ihren Mitteln einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Sie bemühen sich, ihre Demonstration anzumelden und mit der SED-Leitung über die Nutzung der Lautsprecheranlage zu verhandeln. Das scheitert. Sie schreiben Handzettel, im einzigen evangelischen Kindergarten der Stadt können Kinder auch am Abend abgegeben werden, Kindernahrung wird gehortet. Im Malsaal des Theaters am Rande des Alten Gartens haben die Sympathisanten des Neuen Forums heimlich ein riesiges Transparent angefertigt. Es soll das Erkennungssymbol der Anhänger des Neuen Forums sein.
Der Demonstrationszug führt direkt an seinem Mietshaus vorbei, vor dem er sein Motorrad abgestellt hat: »Das Foto zeigt so schön die Menge der Menschen. Da habe ich gewohnt in der Kirchenstraße.« Er lacht und deutet mit dem Finger auf ein Gründerzeithaus in der engen Straße. An dieser Stelle zeigt das Foto Hunderte Menschen, die dicht gedrängt über die Straße und die Gehwege laufen – bildfüllend. Hier ist sein Motorrad geparkt. Angst hat Roland Regge Schulz nicht um seine Maschine: »Ich hatte ganz andere Ängste an dem Abend. Aber ich habe mich sehr gewundert, als ich nachts zurückkam, dass da nichts war, nicht mal der Rückspiegel war verdreht. Nur eine leere Flasche war angelehnt worden. Das ist doch ein Wunder.«
– Und das, obwohl sich hier durch die Schelfstadt etwa 45 000 Menschen an dem Motorrad vorbeigeschoben haben, ein Beweis für die Friedfertigkeit, mit der das Volk durch Schwerin gezogen ist.Der Demonstrationszug schlängelt sich durch die engen Straßen zum innerstädtischen Pfaffenteich, der einen Umfang von etwa 1,7 Kilometer hat. Auch Bodo Henning kommt hier vorbei: »Ich kann das bestätigen, als die Einen um den Pfaffenteich herum waren, da kamen die Letzten dort erst an. Es war schon gewaltig, wenn man bedenkt, was wir mit unserer kleinen Kerze für eine Kraft hatten!
Bald nach dieser aggressiven Aktion des Schweriner SED-Chefs wird das aufgefahrene Gewaltpotenzial bekannt. Die Kampfgruppenmitglieder in den Betrieben werden zur Rede gestellt. »Das hat man ja hinterher auch erst erfahren«, erinnert sich Bodo Henning, »wenn wir gewusst hätten, dass da im Marstall die Kampfgruppen liegen. Also es ist gut, dass wir manches nicht gewusst haben.« Der Demonstrationszug sei ja auch am Marstall vorbeigezogen, »und wenn dann einer hinterher gesagt hat, auf dich hätte ich nicht geschossen – ich glaube, dafür muss man sich heute nicht bedanken«.Der vollständige Beitrag hier:
https://dieschweriner.de/diegeschichte/ ... werin-6370Ein weiterer Beleg, wie gering der Wahrheitsgehalt von bestimmten ehemaligen Volkspolizisten in ihrem angeblichen Wissen
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