DER SPIEGEL 11/1991 Selbstmorde Feuerwasser der Weißen
In den östlichen Ländern nehmen sich viele Menschen aus Existenzangst das Leben.
Der Mann hatte es zum Leiter seiner Arbeitsbrigade in einem Leipziger Holzbetrieb gebracht. Auf diesem Posten
hielt er sich für unentbehrlich, daran konnte auch die Wende nichts ändern. Sein Lebenslauf schien von der Schule
bis zur Rente vorgezeichnet.
Dann kam der Bruch. Der Brigadier wurde in den Vorruhestand versetzt, ohne Warnung oder Absprache. Für die
Firmenleitung war dieser Fall kein Problem: schließlich besaß der Mann ein Haus, und seine Frau hatte noch ihre
Arbeit. Für den Abgeschobenen war es das Ende: Der 60jährige nahm sich das Leben, kurz nachdem er seinen
Arbeitsplatz geräumt hatte.
Seit der Wandel der ehemaligen DDR überall in Auflösung mündet, sieht eine wachsende Zahl von Menschen nur
noch im Tod einen Ausweg aus der Krise. Die Psychiaterin Gisela Ehle, die an der Charité im Ostteil Berlins
selbstmordgefährdete Patienten betreut, kommt bereits zum Schluß: "Das Gefühl der Hilflosigkeit ist wie eine
Epidemie."
Zwar läßt sich die jüngste Entwicklung noch nicht mit länderweiten Daten belegen: Die neugegründeten statistischen
Landesämter-Ost stellen derzeit gerade die Suizidzahlen des vergangenen Jahres (1990) zusammen. Aber Kriminalisten,
Ärzte und Psychologen, die unmittelbar mit Lebensmüden zu tun haben, beobachten überall im östlichen
Deutschland einen starken Anstieg der versuchten oder vollendeten Selbsttötungen, die als Reaktion auf sozialen
Absturz zu werden sind.
Die Leipziger Kreispolizei beispielsweise registriert seit einigen Monaten eine extreme Zunahme von Selbstmorden,
denen Arbeitslosigkeit oder Existenzangst zugrunde liegen. Hauptkommissar Hannes Bauer, 60, der mit einer
Arbeitsgruppe "Unnatürliche Todesfälle" seit 1982 neben Unglücken auch Suiziden nachgeht, spricht von einer
"deutlichen Verschiebung" der Motive": Die Zahl derer, die den Tod als Ausweg aus sozialen Problemen suchen,
sei im Vergleich zu den Jahren vor der Wende "um mehr als das Zehnfache" gestiegen.
Blanke Armut ist nach Erkenntnissen der Leipziger Polizei-Arbeitsgruppe zur Zeit noch die Ausnahme. Häufiger
werden dagegen in den vorliegenden Abschiedsbriefen ganze Bündel von Problemen sichtbar: Wer etwa
alkoholsüchtig und schon dadurch überproportional selbstmordgefährdet ist, sagt Hauptkommissar Bauer,
"der wird auch eher auf die Straße gesetzt".
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W. T.