Im Gefängnis wuchs die KraftJa sagte das Ludwig-Thoma-Gymnasium Prien (LTG) und veranstaltete eigens einen Filmtag. Für die Schüler der zehnten und elften Klassen, die sich im Rahmen des Lehrplans auch mit der DDR beschäftigen, hatte sich Volker Pöhlmann, Lehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde, zusammen mit seinen Kollegen aber noch etwas Besonderes einfallen lassen. Zu Gast war Hans-Henning Paetzke, ein ehemaliger Bürger der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), der – wie er selbst sagte – seine Karriere zum literarischen Übersetzer, Herausgeber, Publizist und Schriftsteller gerade den Widrigkeiten seiner Jugend in der DDR verdankte.
Paetzke berichtete, dass er erst mit fünf Jahren angefangen habe zu sprechen. Dann aber schaffte er doch den Sprung in ein Elitegymnasium im thüringischen Ilmenau. Paetzke bannte die LTG-Schüler mit Eingangsstrophen aus dem bekannten Gedicht „Über allen Gipfeln ist Ruh“, hat Johann Wolfgang von Goethe doch genau dort in Ilmenau dieses Werk verfasst. Mit 15, 16 Jahren, also genau im Alter seiner Zuhörerschaft, habe er allerdings begonnen, so der Referent, sich mit dem System auseinanderzusetzen.
Über Ulbricht lustig gemacht – und von der Schule geflogenAuf einer Ferienfreizeit standen beispielsweise „statt Sommer, Sonne, Strand“ paramilitärische Übungen. Und auf einer Zugfahrt machte er sich im Beisein eines Lehrers und zweier Schüler über Walter Ulbrichts „Zehn Gebote der sozialistischen Moral und Ethik“ lustig. Daraufhin wurde er denunziert und schließlich 1960 von allen Erweiterten Oberschulen der DDR verwiesen.Trotz dieser Schwierigkeiten konnte er eine Ausbildung zum Schauspieler abschließen. Das Engagement am Theater in Prenzlau wurde jedoch 1963 fristlos gekündigt, da er den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) verweigerte.
Selbst heute noch wundert sich Paetzke über das DDR-System, das zwar immer „Nie wieder Krieg“ ausgab, aber jeden zum Militärdienst verpflichtete. Der Verweigerung folgte 1963 eine achtmonatige Haftstrafe, die er im Arbeitslager „Schwarze Pumpe“ und im Zuchthaus Cottbus verbüßte.In seinem Buch „Andersfremd“ geht es in einem Kapitel auch um das Wort Heimat. Dafür verfälscht er das Heinrich Heinesche Gedicht „Denk ich an Deutschland in der Nacht“ zu einem „Denk ich an Leipzig in der Nacht, bin ich nicht um den Schlaf gebracht“. Für ihn sei Heimat „Erlebtes, ... Orte der Kindheit ... und was du abgelehnt hast“.
Das Gefängnis war der Ort, so Paetzke weiter, wo er sich frei gefühlt habe, auch wenn die äußeren Umstände nicht immer angenehm gewesen seien. Mehrfach betonte er, dass ihn genau diese Erfahrungen stärker gemacht hätten. „Alles was ich später geworden bin, verdanke ich diesen Widrigkeiten.“ Während einige seiner Weggefährten an dem System zerbrochen seien, habe er weitergemacht, sein Abitur nachgeholt und Klassische Philologie, Germanistik und Psychologie studiert. Auch das Angebot, als einer der ersten DDR-Bürger in den Westen „freigekauft“ zu werden, lehnte er ab: „Da war ich noch zu jung dafür.“
Auf die Frage aus den Reihen der Schüler, ob er die DDR vermisse, antwortete er wortwörtlich: „Ich vermisse meine Freunde, aber für eine DDR-Nostalgie habe ich kein Verständnis.“ Eine weitere Schülerin hakte bezüglich seiner Familie nach. Paetz ke erklärte, dass ihn seine Eltern politisch nie beeinflusst hätten. Als Jugendlicher habe man „ein anderes Lebensgefühl, als Erwachsener sieht man das anders“.
Die ältere Generation hat immer wenig erzähltEine weitere Frage betraf noch einmal Paetzkes Wurzeln. Er erzählte, dass sein Großvater einerseits die jüdischen Tanten vor der Deportation nach Auschwitz bewahrt habe, aber andererseits den Befehl erteilt habe, polnische Männer aufgrund von Rassenschande zu erhängen. Die ältere Generation habe immer wenig erzählt, das Zusammenfügen einer Geschichte sei „ein mühseliges Puzzle“, aber gerade deswegen sei dies sein Thema geworden: die Austauschbarkeit von Täter und Opfer.
Parallel und ergänzend zur Begegnung mit Paetzke sahen sich die Schüler den Film „Das schweigende Klassenzimmer“ an, einen Film, der auf authentischen Ereignissen in der DDR im Zusammenhang mit dem Volksaufstand in Ungarn (1956) basiert. Einer Schweigeminute, die eine ostdeutsche Abiturklasse für die ungarischen Opfer einlegt, folgen Reaktionen, mit denen weder die Schüler noch die Eltern oder gar die Schulleitung gerechnet haben. Alle werden der Schule verwiesen und gehen – bis auf vier Schüler – allesamt in den Westen.https://www.ovb-online.de/rosenheim/chi ... 68216.html