Damals im Osten
Verfasst: 2. September 2018, 11:28
Der Sprechchor
von Karl-Hans Arndt
Zur FDJ-Studienjahresleitung bestellt zu werden war - sofern damit nicht liiert - nicht gerade erfreulich. Insbesondere dann nicht, wenn neben drei ernst dreinschauenden Jugendfreunden auch noch zwei reifere Herren mit Parteiabzeichen einem konzentriert entgegenblickten und nach einigen scheinheiligen Fragen sofort zur Sache kamen.
Wie ich denn das gemeint hätte mit den tapferen Rotgardisten des Bürgerkrieges, die nicht weglaufen konnten!? Die Vorgeschichte war diese: Vorlesung Gesellschaftswissenschaften mit Darlegung der tapferen Roten Garden gegen die feigen Weißgardisten. Mit meinem losen Maul bemerkte ich zu meinem Nachbarn, dass es da besonders tapfere rote Maschinengewehrschützen gegeben hatte. Die liefen überhaupt nicht weg. Sie hatten nämlich nur noch ein Bein und konnten das gar nicht.
Der Nachbar hatte keine Miene verzogen, aber gemeldet hatte er es offenbar. Das konnte sehr schnell zum Rausschmiss führen. Bei solchen Delikten fackelte man 1956/57 nicht lange an der Humboldt-Universität zu Berlin. Was blieb übrig, als blauäugig zu tun und es anders und anerkennend gesagt zu haben. Das nahm man mir zwar nicht so richtig ab. Aber eine Gegenüberstellung wollte man wohl auch nicht.
Ganz ungeschoren kam ich aber nicht davon. Es gab eine Aufgabe zur Bewährung. Nämlich die Ehre, den Sprechchor der Medizinischen Fakultät für den 1. Mai 1957 zu bilden, zu trainieren und anzuführen. Für die Kandidaten würde man sorgen. Treffpunkt nächsten Donnerstag 15.00 Uhr im alten Hörsaal der Anatomie. Und da saßen dann 50 bis 60 Kommilitonen der Vorklinik mit verdrossenen Gesichtern. Es waren die, die man auch dazu verknackt hatte, als Bewährung im Sprechchor mitzuwirken. Delikte waren z. B. Westkinobesuch, Ostgeldumtausch, Studienbummelei oder - wie auch in meinem Fall- unvorsichtige Sprüche.
Ich baute mich vor dem Auditorium auf, stellte mich als Mitbetroffenen vor und verwies auf die dringende Notwendigkeit, jetzt nicht weiter aufzufallen, vor allem nicht negativ. Dann wies ich darauf hin, dass ein Sprechchor nur ein Lacher wäre, wenn er nicht das Richtige rufe und wenn er zu leise sei. Aus der langen Liste der vorgegebenen Parolen hatte ich drei herausgesucht. In Erinnerung ist mir nur noch "Helft ein einig Deutschland schaffen - ohne atomare Waffen..." (Konnte man damals noch laut sagen). Die drei Parolen schrieb ich an die Tafel und merkte an, dass ich schon welche ausgewählt hätte, die man laut rufen könnte. Das fand auch allgemeine Zustimmung.
Dann erklangen je dreimal im Hörsaal die Sprüche, dass die Fenster schepperten, und nach 25 Minuten waren alle entlassen. Am Morgen des 1. Mai trafen wir uns hinter dem Roten Rathaus. Der Sprechchor war fast vollständig, und wir wurden gleich hinter der Fakultätsleitung an die Spitze der Mediziner platziert.
Nach einem nochmaligen "Probebrüller", dass den vor uns schreitenden Mitgliedern der Leitung fast die Kopfbedeckungen herunterfielen, setzte sich unser Marschblock in Bewegung. Rechtzeitig vor der Ehrentribüne auf dem Marx-Engels-Platz stieß ich den Tambourarm nach oben, und schon erscholl erfreulich laut: "Helft ein einig Deutschland schaffen..."
Es kam auch auf der Tribüne sehr gut an, sodass der Jubelredner von oben herab die Medizinische Fakultät begrüßte und "unseren jungen Medizinern künftige große Studienerfolge" und dergleichen wünschte. Das baute natürlich auch den Chor erheblich auf, und er wurde jetzt erst richtig warm. Unser Block war längst an der Tribüne vorbei, da krähten wir immer noch unsere Parolen, heiß auf weiteren Beifall.
Der kam dann auch regelmäßig, konnte man doch die Sprüche wirklich vertreten. Auf jeden Fall war der Sprechchor ein Erfolg. Das wurde mir auch anerkennend von den Freunden der FDJ-Studienjahresleitung mitgeteilt. Leider war es damit für mich nicht erledigt. Aufgrund der bewiesenen "organisatorischen und leiterischen" Befähigung nötigte man mich, in die FDJ-Studienjahresleitung kooptiert zu werden. Die alsbaldige Wahl war reine Formsache; jeder war froh, dass es ihn nicht traf.
https://www.mdr.de/damals/archiv/artikel7612.html
von Karl-Hans Arndt
Zur FDJ-Studienjahresleitung bestellt zu werden war - sofern damit nicht liiert - nicht gerade erfreulich. Insbesondere dann nicht, wenn neben drei ernst dreinschauenden Jugendfreunden auch noch zwei reifere Herren mit Parteiabzeichen einem konzentriert entgegenblickten und nach einigen scheinheiligen Fragen sofort zur Sache kamen.
Wie ich denn das gemeint hätte mit den tapferen Rotgardisten des Bürgerkrieges, die nicht weglaufen konnten!? Die Vorgeschichte war diese: Vorlesung Gesellschaftswissenschaften mit Darlegung der tapferen Roten Garden gegen die feigen Weißgardisten. Mit meinem losen Maul bemerkte ich zu meinem Nachbarn, dass es da besonders tapfere rote Maschinengewehrschützen gegeben hatte. Die liefen überhaupt nicht weg. Sie hatten nämlich nur noch ein Bein und konnten das gar nicht.
Der Nachbar hatte keine Miene verzogen, aber gemeldet hatte er es offenbar. Das konnte sehr schnell zum Rausschmiss führen. Bei solchen Delikten fackelte man 1956/57 nicht lange an der Humboldt-Universität zu Berlin. Was blieb übrig, als blauäugig zu tun und es anders und anerkennend gesagt zu haben. Das nahm man mir zwar nicht so richtig ab. Aber eine Gegenüberstellung wollte man wohl auch nicht.
Ganz ungeschoren kam ich aber nicht davon. Es gab eine Aufgabe zur Bewährung. Nämlich die Ehre, den Sprechchor der Medizinischen Fakultät für den 1. Mai 1957 zu bilden, zu trainieren und anzuführen. Für die Kandidaten würde man sorgen. Treffpunkt nächsten Donnerstag 15.00 Uhr im alten Hörsaal der Anatomie. Und da saßen dann 50 bis 60 Kommilitonen der Vorklinik mit verdrossenen Gesichtern. Es waren die, die man auch dazu verknackt hatte, als Bewährung im Sprechchor mitzuwirken. Delikte waren z. B. Westkinobesuch, Ostgeldumtausch, Studienbummelei oder - wie auch in meinem Fall- unvorsichtige Sprüche.
Ich baute mich vor dem Auditorium auf, stellte mich als Mitbetroffenen vor und verwies auf die dringende Notwendigkeit, jetzt nicht weiter aufzufallen, vor allem nicht negativ. Dann wies ich darauf hin, dass ein Sprechchor nur ein Lacher wäre, wenn er nicht das Richtige rufe und wenn er zu leise sei. Aus der langen Liste der vorgegebenen Parolen hatte ich drei herausgesucht. In Erinnerung ist mir nur noch "Helft ein einig Deutschland schaffen - ohne atomare Waffen..." (Konnte man damals noch laut sagen). Die drei Parolen schrieb ich an die Tafel und merkte an, dass ich schon welche ausgewählt hätte, die man laut rufen könnte. Das fand auch allgemeine Zustimmung.
Dann erklangen je dreimal im Hörsaal die Sprüche, dass die Fenster schepperten, und nach 25 Minuten waren alle entlassen. Am Morgen des 1. Mai trafen wir uns hinter dem Roten Rathaus. Der Sprechchor war fast vollständig, und wir wurden gleich hinter der Fakultätsleitung an die Spitze der Mediziner platziert.
Nach einem nochmaligen "Probebrüller", dass den vor uns schreitenden Mitgliedern der Leitung fast die Kopfbedeckungen herunterfielen, setzte sich unser Marschblock in Bewegung. Rechtzeitig vor der Ehrentribüne auf dem Marx-Engels-Platz stieß ich den Tambourarm nach oben, und schon erscholl erfreulich laut: "Helft ein einig Deutschland schaffen..."
Es kam auch auf der Tribüne sehr gut an, sodass der Jubelredner von oben herab die Medizinische Fakultät begrüßte und "unseren jungen Medizinern künftige große Studienerfolge" und dergleichen wünschte. Das baute natürlich auch den Chor erheblich auf, und er wurde jetzt erst richtig warm. Unser Block war längst an der Tribüne vorbei, da krähten wir immer noch unsere Parolen, heiß auf weiteren Beifall.
Der kam dann auch regelmäßig, konnte man doch die Sprüche wirklich vertreten. Auf jeden Fall war der Sprechchor ein Erfolg. Das wurde mir auch anerkennend von den Freunden der FDJ-Studienjahresleitung mitgeteilt. Leider war es damit für mich nicht erledigt. Aufgrund der bewiesenen "organisatorischen und leiterischen" Befähigung nötigte man mich, in die FDJ-Studienjahresleitung kooptiert zu werden. Die alsbaldige Wahl war reine Formsache; jeder war froh, dass es ihn nicht traf.
https://www.mdr.de/damals/archiv/artikel7612.html