Stark und ohnmächtig zugleichvon Karin Bloth "Er ist einer der Besten, die wir jemals hatten, er muss gefördert werden", sagten meine Lehrerkollegen. Ich kannte ihn zu wenig, den Schüler Hermann H. Ich war neu im Beruf und im Kollegium, erst wenige Monate dabei.
"Er ist hochbegabt und gehört ohne Zweifel auf die Oberschule", bestätigte Herr R., der Rektor unserer Schule. "Sein Vater lebt aber in der Bundesrepublik", wandte ein Kollege mahnend ein. Mit den Worten: "Wir betreiben doch keine Sippenrache", wischte der Schulleiter diesen Einwand vom Tisch.Es trug sich 1957 in der DDR zu, in Gingst, einem Dorf auf der Insel Rügen. Das Kollegium der Schule hatte, wie alljährlich üblich, in einer Konferenz darüber zu entscheiden, welche Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse die Oberschule besuchen durften. Mit ausdrücklicher Befürwortung des Rektors erging also der Konferenzbeschluss, auch der Schüler Herrmann H. sei für den Besuch der Oberschule geeignet.
Doch die nächst höhere Instanz, der Rat des Kreises, nahm Anstoß an diesem Beschluss. Der Vorgang kam an unsere Schule zurück mit dem Auftrag an die Schulleitung, das Kollegium zu veranlassen, die Entscheidung zurückzunehmen.Erneut wurde eine Konferenz einberufen. Sie fand nicht im Lehrerzimmer statt, sondern in einem Klassenraum. Wir Kolleginnen und Kollegen saßen auf den Schülerbänken, ich zufällig in der ersten Reihe. Unser Vorgesetzter hatte am Lehrerpult Platz genommen.
Wortreich versuchte er uns klarzumachen, dass es in einem sozialistischen Staat nicht angeht, einen jungen Menschen in seiner Bildung zu fördern, dessen Vater in einem kapitalistischen, also feindlichen System lebt. Bevor es zur offenen Abstimmung kam, brachte er noch einmal auf den Punkt, worüber wir in Wahrheit abzustimmen hätten. Seine Worte habe ich noch heute im Ohr. Er sagte: "Es geht also darum: Entscheiden wir uns für unseren Staat oder gegen ihn."
Obwohl mir die Angst wie ein unerwarteter Faustschlag in die Magengegend gefahren war, hob sich meine Hand wie von selbst für den Schüler und damit gegen den Staat. Dann drehte ich mich zögernd um und sah, dass sich die Mehrzahl der Lehrerhände erhoben hatte. Und in den Gesichtern stand der Ausdruck ohnmächtiger Empörung, die auch in mir kochte.
Nach einer Pause, in deren Stille sich eine bestehende Kluft zum Abgrund vertiefte, sagte der Rektor: "Dann ziehe ich die Entscheidung auf eigene Verantwortung zurück." Fast wortlos gingen wir nach dieser Konferenz auseinander. Eine selbsternannte "Demokratie" hatte sich abermals entlarvt.Wenige Tage danach stand ich auf den Kreidefelsen von Stubbenkammer. Die Fähre von Saßnitz nach dem schwedischen Trälleborg zog ihre Bahn durch die Ostsee und hinterließ eine breite, mit der Entfernung schmaler werdende Spur. Sie fuhr in die Freiheit und entzündete eine Sehnsucht danach in mir, die sich nicht mehr stillen ließ.
Ich verließ kurze Zeit darauf den Unrechtsstaat DDR und flüchtete in die Bundesrepublik Deutschland.
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