Reisen mit dem FDGB.
Urlauberschiff in NotUrlauberschiff in Not Flüchtende Passagiere, meuternde Genossen und am Ende die Beinahe-Kastastrophe.
Als „Spiel mit Menschenleben“ bezeichnet Karl-Heinz Scholz die Chaos-Fahrt des DDR-Ferienschiffs Fritz Heckert vor 46 Jahren. Mit Scholz und weiteren Zeitzeugen sprach Armin Görtz.
Die stürmische Schreckensnacht im Januar 1962 ist für Karl-Heinz Scholz unvergesslich. Wenn die Fritz Heckert sich zur Seite neigte, bot sich hinter den Speisesaalfenstern eine gespenstische Szenerie. „Hoch über den Wellenkämmen war noch ein schmaler Streifen Wolken erkennbar, sonst sahen wir nur Wasser“, erinnert er sich. „Ein Schiffsoffizier hat mir nach dem Sturm offenbart, dass wir kaum noch eine Chance gehabt hätten zu überleben.“ Der neue, in einer DDR-Werft gebaute Urlauberpott war nur knapp einer Katastrophe entgangen.
Derlei durfte seinerzeit nicht in die Öffentlichkeit dringen, und Scholz versprach bei jenem Gespräch, Stillschweigen über das Ausmaß der Bedrohung zu wahren. Er hat sich über Jahrzehnte daran gehalten, will jetzt aber endlich die Wahrheit sagen: „Die Fahrt war ein Spiel mit Menschenleben.“
Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen seien mehr als 500 DDR-Bürger in Gefahr gebracht worden und nur knapp dem Tod entronnen. Die Afrika-Reise des 8000-Tonners in jenem Winter war eines der abenteuerlichsten Kapitel der DDR-Seefahrtsgeschichte.
Scholz arbeitete als Wirtschaftsredakteur bei der Leipziger Volkszeitung, als ihm die betriebliche Gewerkschaftsleitung im Dezember 1961 überraschend anbot, mit dem wenige Monate alten Schiff nach Casablanca in Marokko und nach Conakry in Guinea zu reisen. Auch Ehefrau Erika durfte mit. Am 3. Januar 1962 begann in Rostock die Fahrt der knapp 400 Urlauber. „An Bord waren viele Ärzte und Ingenieure, Leute, die sich die teure Reise leisten konnten“, berichtet der 77-Jährige.
Der Komfort beeindruckte die Feriengäste: Kino, Schwimmbäder, Tanzsalon, Bars. Sänger Horst Köbbert, der später als Entertainer Fernsehkarriere machte, sorgte für gute Laune. Auf der Hinfahrt, erzählt der Journalist, sei die im Winter für schwere Stürme berüchtigte Biskaya ruhig geblieben.
Beim Landgang in Casablanca genossen die Urlauber exotisches Flair. Das marokkanische Tourismusministerium führte die Schiffsoffiziere, den Redakteur und dessen Frau am Abend sogar in eine Bar. Seit 1961 versperrte die Mauer DDR-Bürgern den Weg in die Bundesrepublik. Die Tour in westliche Häfen – schon vor jenem 13. August geplant – barg seither aus Sicht der SED-Führung ein hohes Fluchtrisiko. Deshalb hatte die sozialistische Einheitsgewerkschaft als Reiseveranstalter nach politisch verlässlichen Teilnehmern gesucht. Dennoch geriet ausgerechnet die propagandistisch hoch gejubelte Meerestouristik des Sozialismus zum Fluchthilfekommando. Nach der Nacht voller Bauchtanzbegeisterung stellte die Führungscrew bei der Rückkehr an Bord fest, dass sich 24 Passagiere in Casablanca abgesetzt hatten. Das bundesdeutsche Konsulat organisierte ihren Abflug nach Paris und Frankfurt/ Main, während westliche Medien die Blamage des SED-Staates vermeldeten. Der Kapitän erhielt Order zur Rückkehr. Der Grund: „Ausgerechnet während unseres geplanten Guinea-Aufenthalts stand dort ein Besuch von Bundespräsident Heinrich Lübke an.
Für die Führung in Ostberlin“, erläutert Scholz, „muss es eine grauenvolle Vorstellung gewesen sein, dass nach der Flucht in Casablanca als nächstes über jubelnde DDR-Bürger beim Lübke-Besuch in Conakry und über weitere Flüchtlinge berichtet worden wäre.“ Doch nach dem Befehl zur Heimkehr probten die Genossen unter den Passagieren den Aufstand. „Als wir bei einer Versammlung über den geplanten Abbruch informiert wurden“, so erinnert sich der Zeitzeuge, „gab es Protest. Man dürfe jene DDR-Bürger, die in Casablanca wieder an Bord zurückgekommen waren, nicht für die Flucht der anderen bestrafen, lautete der Tenor. Und schließlich hätten alle ihre Reise bezahlt.“ Die Reederei lenkte tatsächlich ein, man startete zu einer kurzen Reise ins Mittelmeer mit Landgang in Tunis. Dort kam es zu einer bizarren Szene. Während einer Rundfahrt zog es die Touristen zu einem Obstladen. „Sicher zum ersten und letzten Mal hatten die Tunesier eine Menschenschlange gesehen, die nach Orangen und Bananen anstand“, erzählt er. „Es war wie Torschlusspanik.“ Ein treffender Vergleich – denn nach dem Tunis-Aufenthalt fehlten drei weitere DDR-Bürger. Die Reederei-Aufforderung an den Kapitän, sofort zurückzukehren, war nun unumstößlich.
Schon während der Fahrt durch die Straße von Gibraltar zeigte sich das Meer von einer ungemütlichen Seite. „Für den Atlantik war ein schwerer Sturm angekündigt.“ Dank seiner Kontakte zur Schiffsführung erfuhr der Journalist später, dass diese nicht gewillt gewesen war, ein Risiko einzugehen. „Man bat in Rostock um Erlaubnis, in einem portugiesischen Hafen Schutz zu suchen. Die Reederei aber ordnete an, die Fahrt fortzusetzen.“ Am Nachmittag des 21. Januar setzte der Sturm ein. „Es folgten für uns 24 Stunden inmitten einer brodelnden Biskaya. Meine Frau und ich – und nicht wir allein – hatten Angst um unser Leben“, gesteht der heutige Rentner. Auf dem zunächst noch zugänglichen Oberdeck zog die Besatzung Haltetaue, damit niemand bei Schräglage wegrutschte. Dennoch wurden die Decks schließlich gesperrt, für Ablenkung sorgte eine außerplanmäßige Filmvorführung. Für Ehefrau Erika Scholz eine düstere Erinnerung: „Auch wir saßen im Kinosaal – bis sich eine unbesetzte Stuhlreihe aus der Verankerung riss“, erzählt sie. Beim Abendessen machten sich ebenfalls leere Stühle selbstständig. Die ersten Urlauber legten ihre Schwimmwesten an. Nach dem Essen verharrte ein Teil der Passagiere im Speisesaal, dessen große Fenster schließlich mit Platten verbarrikadiert wurden. „Der Chefsteward forderte uns auf, in die Kabinen zu gehen“, sagt Karl-Heinz Scholz. Aber im Speisesaal schien die Überlebenschance im Falle eines Kenterns größer. Erst nach langem Zureden zogen sich die letzten Urlauber in ihre Kabinen zurück. „Gegen Mitternacht verwandelte sich das seitliche Ausschlagen des Rumpfes in ein gleich bleibendes Stampfen, der ganze Schiffsrumpf zitterte.“
Mit 32 Grad Schräglage hatte die Heckert laut Scholz den kritischen Punkt erreicht und drohte zu kentern. Um dem zu entgehen, sei sie gegen Wind und See gedreht worden. „Ich weiß aus dem späteren Gespräch mit dem Schiffsoffizier, dass dieses Beidrehen in tiefster Nacht äußerste Gefahr für das Schiff bedeutete. Die Heckert war faktisch manövrierunfähig und trieb auf die französische Küste zu. Hätte der Sturm nur 20, 30 Minuten länger angehalten, wir wären an der Küste zerschellt.“ Der Journalist kann sich an die Worte des inzwischen verstorbenen Seeoffiziers erinnern: „Ein solches Risiko werde ich nie wieder eingehen, auch nicht durch gutes Zureden oder durch Zwang übergeordneter Funktionäre.“ Anderen Zeitzeugen blieb jene Nacht gleichfalls im Gedächtnis. Erich Kuhfeld zählte – ebenso wie seine Frau Jutta – bis Ende der 60er zur Besatzung, arbeitete als Klempner. „Es war sicherlich der stärkste Sturm, den wir mitgemacht haben“, sagt er. Seinerzeit hätte es bei hohen Windstärken „immer wieder Manövrierprobleme“ gegeben, das habe sich erst durch eine spätere Nachrüstung geändert, so 68-Jährige, der mit seiner Frau die Internet-Präsentation
http://www.urlauberschiff-fritzheckert.de betreut. Zu den Passagieren bei der Chaos-Tour gehörte auch Dietrich Strobel, ein Schiffsbauingenieur, der sich heute als Buchautor der DDR-Seefahrt widmet. Er nennt die Entscheidung, die Heckert in der stürmischen Winterzeit durch die gefährliche Biskaya zu schicken, abenteuerlich. „Das war eine Zumutung.“ Um nicht aus den Doppelstock-Kojen zu stürzen, lagen er und seine Frau in jener Nacht auf dem Fußboden. Über eine aktive Schlingerdämpfung habe die Heckert nicht verfügt. Dennoch beharrt der 71-Jährige auf der Feststellung, dass sie ausreichend seetüchtig gewesen sei. In einem Bericht von Willi Eckholz, der sie einige Zeit später als Kapitän übernahm, sind diverse Mängel aufgelistet. Eckholz setzte aus Sicherheitsgründen eine Veränderung der Ruderanlage durch. Der Antrieb, nach Einschätzung des Kapitäns „eine Versuchsanlage“, sei ein Problem geblieben. Dieselmotoren waren mit Gasturbinen kombiniert, die – zum Glück folgelose – Brände verursachten. Bei jedem Anfahren der Turbinen standen „Besatzungsmitglieder mit Handfeuerlöschern bereit, die sofort die Flammen bekämpften“. Eckholz beobachtete zudem rätselhafte Risse im Fensterbereich und „eine Durchbiegung des Schiffes“. Es sei zwar robust, aber bei Sturm ein Schaukelpferd gewesen, erklärt Ronald Piechulek vom Schiffsbau- und Schifffahrtmuseum Rostock. Offiziell ist über die dramatische Nacht im Januar 1962 überliefert, dass der Pott, nachdem er sich gegen den Wind gestellt hatte, starken Schlingerbewegungen ausgesetzt war. Spätere Schwierigkeiten, den Kurs zu halten, sind ebenfalls vermerkt. Für Robert Bronsart, Schiffsbau-Experte an der Uni Rostock, ein außergewöhnlicher Hinweis. „Im Prinzip darf so etwas nicht passieren“, meint er. „Das Schiff muss in der Lage sein, den Kurs unter allen Bedingungen zu halten.“. Karl-Heinz Scholz fuhr einige Tage später erneut der Schrecken durch die Glieder. Im Kattegat fiel vorübergehend die gesamte elektrische Anlage aus. „Die Heckert war erneut manövrierunfähig. Zu unserem Glück war es zu dieser Havarie nicht während des Sturms gekommen.“ Zudem habe es gefährliche Schwierigkeiten mit der Radaranlage gegeben. Nach der Heimkehr von der beängstigenden Tour blieb die geplante Reisereportage ungeschrieben – sie wäre nicht gedruckt worden. 1965 verließ der Journalist die damalige Redaktion, wechselte in die Industrie und arbeitete später für Zeitschriften. Heute lebt er in Radebeul. Für die Heckert blieb die Fahrt im Januar 1962 die einzige in westliche Häfen. Das von Anfang an störanfällige Wasserfahrzeug wurde 1972 – nach nur elfjähriger Seefahrt – außer Dienst gestellt. Die Fritz Heckert – hier auf einer DDR-Ansichtskarte – sollte der SED-Propaganda dienen. Dass jenes Schiff 1962 in höchste Gefahr geraten war, hatte geheim zu bleiben. Foto: Sammlung Dietrich Strobel Souvenir aus Casablanca: Karl-Heinz Scholz erhielt den Schmuckteller – mangels Westgeld – auf dem Basar im Tausch gegen einen DDR-Farbfilm. Foto: André Kempner
Drei Tage nach dem Sturm vermeldet die Bordzeitung wieder den planmäßigen Verlauf des propagandistischen Kulturprogramms. Abbildung: Sammlung Dietrich Strobel Noch einmal Reisefreiheit: Karl-Heinz Scholz 1962 auf der Heckert. Foto: privat Karl-Heinz Scholz: Die Heckert war faktisch manövrierunfähig. Hätte der Sturm nur 20, 30 Minuten länger angehalten, wir wären an der Küste zerschellt. Robert Bronsart: Im Prinzip darf so etwas nicht passieren. Das Schiff muss in der Lage sein, den Kurs unter allen Bedingungen zu halten. STICHWORT FDGB-Seereisen Kurz nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 entstand in der DDR-Führung die Idee, durch den Bau eines Kreuzfahrtschiffes die Stimmung im Land zu heben. Drei Jahre später gab es dazu einen Regierungsbeschluss, 1958 wurde der Plan erstmals zum öffentlichen Propaganda-Thema. Als Eigentümer und Reiseveranstalter sollte die sozialistische Einheitsgewerkschaft FDGB – Freier Deutscher Gewerkschaftsbund – fungieren. 1961 lief die in Wismar gebaute, nach einem kommunistischen Funktionär getaufte Fritz Heckert vom Stapel. Pläne zum Bau weiterer Schiffe blieben Theorie. Bereits 1959 hatte der FDGB die schwedische Stockholm gekauft, die ab 1960 als Völkerfreundschaft in See stach. Aufgrund der Flucht von 27 DDR-Bürgern bei der Afrika-Reise der Heckert 1962 wurden Landgänge in westlichen Häfen später möglichst vermieden und Urlauber im Vorfeld von der Stasi überprüft. Dennoch gab es weitere Fluchten, zum Beispiel indem Reisende in Küstennähe von Bord sprangen.
Probleme bereitete auch die Instandsetzung der Schiffe. Bereits 1972 baute man die Heckert zum schwimmenden Arbeiterwohnheim um, die überholungsbedürftige Völkerfreundschaft wurde 1985 verkauft und durch die Arkona ersetzt. Insgesamt erlebten bis 1990 knapp 300 000 DDR-Bürger Ferien auf See. Ein Teil der überaus gefragten Reisen ging an Funktionäre. Neben den von der Gewerkschaft vergebenen, hoch subventionierten Touren, vermittelte das staatliche Reisebüro Fahrten zu einem weitaus höheren Preis. FDGB-Schiffe wurden zudem an westliche Unternehmen verchartert, um harte Währung zu erwirtschaften. G. MS Völkerfreundschaft Das in Göteborg gebaute, 160 Meter lange und 21 Meter breite Schiff fuhr ab 1948 als Stockholm für die schwedischen Amerika-Linie und rammte 1956 die Andrea Doria, die versank. Die reparierte und 1959 vom DDR-Gewerkschaftsbund gekaufte Stockholm bot ab 1960 als MS – Motorschiff – Völkerfreundschaft Platz für 568 FDGB-Urlauber. Späteres Reiseziel war häufig Kuba. Nach langjährig unzureichender Instandhaltung wurde sie 1985 nach Panama verkauft, trug diverse Namen, diente zeitweise als Asylbewerberheim.
Nach Umbau zum hochmodernen Kreuzfahrtschiff in den 90ern ist sie nun als Athena unterwegs. TMS Fritz Heckert Die in Wismar 1961 fertiggestellte Fritz Heckert war 141 Meter lang und knapp 18 Meter breit, bot Platz für 379 Passagiere sowie 178 Besatzungsmitglieder. Die Bezeichnung Turbinen-Motorschiff – TMS – stammt von einem den Nöten der DDR-Wirtschaft geschuldeten und für Passagierschiffe sehr ungewöhnlichen Antrieb: Zwei Gasturbinen verstärkten die beiden eher schwachen Dieselmotoren. Bereits 1972 wurde die störanfällige Heckert in ein schwimmendes Wohnheim umfunktioniert, das von einer Hamburger Firma 1991 gekauft und zum Hotelschiff umgebaut wurde. 1999 folgte die Verschrottung. MS Arkona Als erstes ZDF-Traumschiff weckte die 1981 in Hamburg gebaute Astor Sehnsüchte, wechselte dann in den Besitz einer südafrikanischen Firma und wurde 1985 von der DDR gekauft. Anschließend fuhr sie als MS – Motorschiff – Arkona im Winter FDGB-Urlauber durch die Ostsee oder nach Kuba, verdiente im Sommer mit Westtouristen harte Währung. Das Schiff – 164 Meter lang und knapp 23 Meter breit – heißt seit 2002 Astoria, bietet Platz für rund 500 Passagiere und soll in Besitz eines holländischen Privatmannes sein. Es ist derzeit für einen Bremer Reiseveranstalter unterwegs. A. G. EXTRA Militär-Dienst Als Spruch leistete die Urlauberschifffahrt auch dem DDR-Militär einen Dienst: Soldaten hörten landauf, landab von ihren Vorgesetzten: „Wir sind hier nicht auf der Fritz Heckert.“ Die nervende Floskel über das keineswegs erholsame Wesen der Armee hielt sich weit über die kurze Fahrenszeit des Problemschiffes (1961–1972) hinaus.A.G.
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(Quelle: LVZ/Leipziger Volkszeitung; Ressort=Magazin; Sektion:L/Leipziger Volkszeitung-Stadtausgabe/Stadtausgabe)
Gruß Andreas