Ein Dorf für AlkoholikerIn der DDR wurde viel getrunken. Doch Alkoholiker galten als asozial. In einem Mecklenburger Dorf finden Suchtkranke bis heute Hilfe. Als hätte der Autor eines kitschigen Heimatromans voll aufgedreht: Vögel zwitschern, die Maisfelder liegen still da, und die Dorfstraße ist übersät mit Pferdeäpfeln. Serrahn ist ein 199-Seelen-Nest in Mecklenburg, 50 Kilometer südlich von Rostock. Im Sommer ziehen hier Großstädter auf ihren Mountainbikes durch. Endlich abschalten.
Oder endlich aufhören. Denn die meisten Besucher kommen nicht nach Serrahn, weil das Flüsschen Nebel so malerisch in den Krakower See fließt. Sie kommen, weil sie nicht mehr weiter wissen. Der Alkohol hat sie kaputt gemacht. Serrahn ist ihre letzte Hoffnung.
Arznei oder Geschenk - Alkohol ging immer und überallDas kleine Serrahn ist einzigartig. Nicht nur wegen der SOS-Station, die Alkoholkranken in akuter Not ohne große Voranmeldung hilft, eine bundesweite Besonderheit. Sondern auch wegen seiner Geschichte.
1971 begann man hier, Suchtkranken zu helfen. In der DDR damals ein Novum. Heinz Nitzsche ist der Gründervater dieser Kolonie.
Dabei wurde reichlich getrunken im Arbeiter- und Bauernstaat. Der SED-Führung galt Alkoholismus als Überbleibsel eines eigentlich überwundenen, dekadenten Systems. Trotzdem hatte die DDR 1989 mit monatlich zwei 0,7-Liter-Flaschen Schnaps den weltweit höchsten Pro-Kopf-Verbrauch von Spirituosen. Heute kommt der Durchschnittsdeutsche nicht mal auf einen halben Liter.Die Alltagsdroge passte gut zum Kollektiv als gesellig-sorgenfreiem Raum ohne Konkurrenzdenken, zu einem Leben „in einer räumlich begrenzten, dafür an Zeit umso reicheren Welt“, schreibt der Berliner Ethnologe und Schnapshändler Thomas Kochan in seinem Buch „Blauer Würger“. „Die Spirituosen-VEB waren in einer größtenteils vor sich hin krebsenden Wirtschaft eine sichere Bank.“ Ob als Tauschmittel, Arznei oder Geschenk – Alkohol ging immer und überall, beim Arbeiter wie beim Stasi-Offizier.
Serrahn wird gebraucht
Diese Prägung wirkt nach. Die Zahl jener, die sich buchstäblich zu Tode trinken, ist in Ostdeutschland bis heute höher als im Westen. Im Jahr 2012 kamen in Mecklenburg-Vorpommern 37 Tote auf 100 000 Einwohner. Ein trauriger erster Platz. Auch die anderen Ost-Länder rangieren in der Statistik weit oben. Der Bundesdurchschnitt lag 2012 bei 18 Toten, Berlin knapp darunter. Süchtig nach Alkohol sind im vereinten Deutschland geschätzt 1,3 Millionen Menschen.Säufer waren in der DDR zunächst Täter, weil sie dem Sozialismus schadeten. Nicht Opfer, denen geholfen werden muss. Wer ständig betrunken den Schichtbeginn verschlief, dem wurde keine Therapie angeboten, sondern ein längerer Aufenthalt im Arbeitslager. Ein System aus Unterstützung und medizinischer oder psychologischer Hilfe gab es, zumindest offiziell, bis zum Schluss nicht.
Wie hat er sie alle trocken gekriegt?Auf dem Hof wurde es schon nach wenigen Jahren voll. Nitzsches Haus war ein Geheimtipp, in Haftanstalten handelte man seine Adresse.
Auch im Dorf mischte er sich ein. Da war zum Beispiel Familie Haas, der Vater über Jahrzehnte Alkoholiker. Manchmal ging er auf die Kinder los. Wenn das Geschrei zum Pfarrhof herüberschallte, kam Nitzsche und ging dazwischen. Irgendwann bekam er den Mann vom Alkohol weg, wenigstens für die letzten Jahre vor dessen Tod. Auch Hansi, dessen Gesicht vom Alkohol ganz verquollen war. Oder den LPG-Vorsitzenden. „Die hab’ ich alle trocken gekriegt.“ Seine Bilanz: rund 2000 Patienten während der DDR-Zeit.Nitzsche ist kein Psychologe, und Suchttherapeut wurde er erst in den 90er Jahren. Wie hat er das also geschafft? Er rückt seine Brille zurecht, schiebt den Kopf vor. „Alkoholiker brauchen keine großen therapeutischen Vorträge, die brauchen Liebe, Vertrauen, Werte.“
Den vollständigen Beitrag findet man hier:
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/ ... 2-all.html
Heinz Nitzsche - einfach ein wunderbarer und selbstloser Mensch.