Alkoholmissbrauch in der DDR – Definitions- und EingrenzungsversucheEin Blick auf das Problem des Alkoholismus in der späten DDR bringt schnell begriffliche Unklarheiten zutage.
Merkmale der DDR-TrinkkulturDer hohe Spirituosenkonsum und die große Menge Alkohol pro Kopf lassen eine DDR-spezifische Trinkkultur erahnen, die sich grundsätzlich von den Gepflogenheiten im Umgang mit Alkohol in der Bundesrepublik abhebt. Trotz des Werbeverbots sind bunte Schnapsflaschen aus vielen Schaufenstern nicht wegzudenken.[47] Während der hohe Konsum an Spirituosen in der DDR im Jahr 1988 in westdeutschen Medienberichten immer wieder hervorgehoben und zum Teil als Beleg für die schlechten Lebensbedingungen in der DDR angeführt wird, die nur mit Alkohol zu ertränken seien,[48] trinken die Ostdeutschen ihre Schnäpse und Liköre in der Regel jedoch keineswegs mit dem Ziel des Vollrausches. Vielmehr gehört das Alkoholtrinken zu jedem besonderen Anlass im Kollegen-, Freundes- und Familienkreis sowie bei offiziellen Feiern aus geselligen Gründen einfach dazu. Mitunter werden sogar extra Trinkgelegenheiten geschaffen.[49] Schnaps ist dabei ein universelles Getränk für verschiedene Gelegenheiten: Er dient weniger der Flucht aus dem Alltag und ist vielmehr fester Bestandteil desselben.
Dies legt nahe, warum die Drogengeschichte der DDR bis 1989 vor allem eine Alkoholgeschichte bleibt: Der Alltag und das damit verbundene Drogenkonsumverhalten in der DDR waren nicht vereinbar mit den individualisierenden Konsumformen von psychoaktive Substanzen wie Heroin und Kokain und deren stärkeren Selbstbezug.[50] Die „Alltagsdroge“ Alkohol passte offensichtlich besser zu den Lebensbedingungen der Menschen. Zudem waren Verfügbarkeit wie auch Konsumierungsmöglichkeiten für illegale Drogen in der DDR durch Grenzkontrollen und die starke Überwachung begrenzt.
Alkoholkonsum und Kriminalität im Spiegel der Medien…Aus dem hohen Alkoholkonsum der Bevölkerung ergibt sich für die politische Elite nicht nur ein ideologischer Zwiespalt, sondern auch ein realpolitisches Problem. Dies manifestiert sich etwa im häufigen Zusammenspiel von Alkoholgenuss und Kriminalität, das auch in der Polizeiruf-Folge Flüssige Waffe aufgegriffen wird. Dass Verbrechen infolge übermäßigen Alkoholkonsums nicht nur in den Unterhaltungsformaten des DDR-Fernsehens, sondern auch in der Realität vorkommen, zeigt die Analyse ostdeutscher Zeitungsartikel aus dem Jahr 1988. Hier wird insbesondere in den Gerichtsreportagen Unser Gerichtsbericht (Berliner Zeitung) und Mit der Gesellschaft in Konflikt (Neue Zeit) häufig über Straftaten berichtet, die vornehmlich junge Straftäter unter Alkoholeinfluss begangen haben. Doch werden diese Fälle allesamt als Ausnahmen interpretiert. Als Verantwortliche für das Fehlverhalten der Jugendlichen und ihren maßlosen Alkoholkonsum werden häufig die Eltern oder der Freundeskreis ausgemacht.[51]… sowie im Fokus der WissenschaftNeben den Rechtswissenschaften widmete sich seit den 1970er Jahren auch die Medizin den Themen Alkoholismus und Kriminalität.[61] Diesen Fokus spiegelt der 1979 erschienene Sammelband Der Alkoholiker. Alkoholmißbrauch und Alkoholkriminalität wider, in dem die Aufsätze von Jähnig, Lekschas und anderen Experten wie etwa den Medizinern Hugo von Keyserlingk und Erik Winter veröffentlicht wurden. Im Geleitwort erklärt Hans Szewczyk, Professor für Psychiatrie an der Berliner Charité, mit der vorliegenden Ausgabe der Reihe Medizinisch-juristische Grenzfragen unter besonderer Berücksichtigung der Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie solle ein neues Profil etabliert werden: Pro Band werde jeweils ein praxisorientierter Forschungsschwerpunkt aus der Perspektive der verschiedenen Disziplinen Rechtswissenschaften, Kriminologie, Psychiatrie und Psychologie beleuchtet. Dass der erste Band mit dieser Gliederung und der ausdrücklichen Orientierung an „gesellschaftlichen Notwendigkeiten“[62] den Themen Alkoholmissbrauch und -kriminalität gewidmet ist, erlaubt Rückschlüsse auf die Brisanz der Thematik.
Ende der 1980er Jahre hat die medizinische Alkoholforschung noch immer insbesondere die extremen Ausprägungen des Alkoholkonsums und nicht beispielsweise das allgemeine gesellschaftliche Trinkverhalten im Blick. Während es ein Jahr zuvor bei der ersten Tagung der Arbeitsgemeinschaft Suchtkrankheiten der Sektion Psychiatrie der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR um das Thema Diagnostik und Therapie Suchtkranker ging,[63] stehen 1988 nun Behandlungsstrategien bei Alkoholmißbrauch und Alkoholabhängigkeit auf dem Programm. Anlass für die Tagung ist, so Hugo von Keyserlingk in seinem Vorwort zum Tagungsband, die „im Entwurf vorliegende ‚Richtlinie über Aufgaben des Gesundheits- und Sozialwesens zur Verhütung und Bekämpfung der Alkoholkrankheit‘“[64] des Ministeriums für Gesundheitswesen in der DDR. Die hier erwähnte Richtlinie tritt am 1. Juli 1989 in Kraft und stellt Maßnahmen zur Verbesserung der medizinischen und sozialen Betreuung von Alkoholkranken in Aussicht.
Stattdessen wurde der Blick auf die westlichen Staaten, besonders auf die Bundesrepublik, gelenkt, wo – so auch noch 1988 der dominierende Tenor – gesellschaftliche Probleme unverkennbare Ursachen für Alkohol- und Drogenabhängigkeit seien.[68] Die Argumentation, Alkoholmissbrauch sei ein „kapitalistisches“ Phänomen, das mit dem „Aufbau des Sozialismus“ zunehmend verschwinden würde, wurde mit fortschreitender Zeit jedoch immer unglaubwürdiger. Deswegen setzt die politische Führung zum Ende der 1980er Jahre vermehrt auf eine Strategie des Abwiegelns: Rechtfertigungsstrategien korrespondieren mit unmittelbar relativierten „Eingeständnissen“. Dass sie dadurch selbst zu einer Politisierung des Alkoholthemas beiträgt, bleibt von ihr ebenso unberücksichtigt wie die Folgen der Tabuisierung, bieten doch die in diesem Kontext auftretenden offensichtlichen Widersprüche zwischen Anspruch und Realität reichlich Anlass zur Systemkritik.[69]
Den vollständigen und längeren Beitrag findet man hier:
https://zeitgeschichte-online.de/themen ... ol-der-ddrEin sehr langer; aber nicht minder interessanter Bericht.