Kinder der NS-„Heilanstalt Lublinitz“ bekommen hohe Dosen an Schlaftabletten verabreicht und sterben. Ihre "Schuld": Sie sind geistig behindert. Dr. Elisabeth Hecker entscheidet wörtlich über Leben und Tod.
Die ehemalige "Abteilung B" der Heil- und Pflegeanstalt in Lublinitz.
Als Mädchen besuchte Zofia Podzorska die Gräber ihrer Schwestern jede Woche. "Aber das Grab des Jungen fehlte", sagt die 75-Jährige. "Der Junge" war ihr Bruder Stanislaw. Er verstarb 1943 im Alter von elf Jahren, drei Jahre vor Podzorskas Geburt. "Ich wusste, dass zwei meiner Schwestern früh erkrankten und nicht überlebten", erinnert sich Podzorska. "Über den Jungen erzählten meine Eltern nur, dass er in der Heilanstalt Lublinitz war".
In Lublinitz (polnisch: Lubliniec), gut hundert Kilometer von Podzorskas Wohnort entfernt, liegt Stanislaw in einem Massengrab. Auf dem Friedhof hinter dem Gelände der Klinik wuchert Gras über die Steinrahmen der Gräber. Hier brennen keine Kerzen, hier liegen kaum Blumen. Eine Blechtafel bezeichnet den verlassenen Ort als "Platz des Nationalen Gedenkens". Darunter steht "Massengrab für 194 Kinder - Opfer eines Experiments, durchgeführt von den Nationalsozialisten in den Jahren 1942-1944".
Friedhof und Gedenktafel hinter der neuropsychiatrischen Klinik in Lublinitz.
Kinder wie Stanislaw Polok belasteten in den Augen der Nationalsozialisten die Gesellschaft. Stanislaw hatte Epilepsie. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, so erzählte es der Vater Jahre später bei einer Vernehmung, verbesserte sich sein Zustand. Doch im Jahr 1942 wurde Stanislaw nach Lublinitz geschickt. "Wir wollten uns damit nicht einverstanden erklären, es wurde uns aber eröffnet, dass dies eine Verfügung der Behörden sei", erzählte der Vater den Ermittlern.
"Tötungsermächtigung" für die Ärzte
Auf Wunsch Hitlers mussten Ärzte Patienten mit psychischen Krankheiten und Fehlbildungen melden. Gutachter entschieden dann, ob sie ermordet werden sollten. Dann schickte der Reichsausschuss eine "Tötungsermächtigung" an die Ärzte: "Einer Behandlung des Kindes aufgrund der einschlägigen Bestimmungen … steht nichts im Wege". Auch eine deutsche Ärztin der Heilanstalt Lublinitz verwendete den Jargon. In einem Schreiben meldete Dr. Elisabeth Hecker einen Jungen und bat den Reichsausschuss darum, "die Ermächtigung bald zu bekommen".
Jan Polok fühlte sich unwohl, als er seinen Sohn zum ersten Mal in Lublinitz besuchte. "Anfangs wollte man ihn mir nicht zeigen", sagte er aus, "aber dann wurde er angekleidet und zu mir geführt". Die Ärzte machten ihm keine Hoffnung auf Genesung. "Von Anfang an nahmen wir an, dass mit ihm etwas vorgenommen worden ist", sagte Polok 26 Jahre später zu den Ermittlern. Sein Sohn sei immer kräftig gewesen, plötzlich wirkte er schwach. Am 4. September 1943 starb Stanislaw Polok, für die Eltern war es ein Schock.
Zofia Podzorska erfuhr erst durch unsere Recherche, dass ihr Bruder gezielt ermordet wurde.
Schlafmittel zum Töten
Die Deutschen übernahmen die Heilanstalt Lublinitz in den ersten Tagen der Besatzung. Im Herbst 1941 entstand die "Jugendpsychiatrische Abteilung" unter Leitung von Elisabeth Hecker. Zusammen mit drei Assistenzärztinnen diagnostizierte sie Neuankömmlinge, bevor sie sie auf andere Stationen überwies. Unheilbar Kranke schickte Hecker in die "Abteilung B". Dort, auf einem alten Gutshof abseits des Klinikgeländes, verabreichte Ernst Buchalik den jungen Patienten Luminal in Tablettenform.
Laut Buchalik, Leiter der Heilanstalt, sollte das Schlafmittel die Kinder vor Selbstverletzung schützen. Allerdings benutzten Ärzte Luminal gerne als Mittel zur Euthanasie. Auch Ernst Buchalik war in die Führerkanzlei und die Kinderfachabteilung Brandenburg-Görden gebeten worden. Dort wiesen die Nationalsozialisten ihn in die Methoden der Kindereuthanasie ein. Buchalik lernte, wie er Kinder mit einer hohen Dosierung töten kann.
In einem Notizheft hielten die Pflegerinnen in Lublinitz fest, wie viel Luminal sie den Kindern verabreichten. Demnach erhielten 235 Kinder im Alter von 1 bis 14 Jahren Luminaltabletten. Von diesen 235 Kindern starben 221. Die Staatsanwaltschaft Dortmund eröffnete 1965 ein Ermittlungsverfahren gegen Ernst Buchalik, Elisabeth Hecker, vier Assistenzärzte und -ärztinnen und acht Pflegerinnen. Auf Hecker lastete ein schwerer Verdacht. Denn sie war es, die entschied, welche Kinder in die "Abteilung B" kamen und welche nicht.
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