Wie die »Fahrrad-Fraktion« die Stasi besetzte.
Seit der Potsdamer Großdemonstration vom 4. November 1989 endete jeder Protestmarsch gegen das SED-Regime in schöner Regelmäßigkeit vor der MfS-Bezirksverwaltung in der Hegelallee mit Sprechchören wie: »Stasi raus!« Spätestens am ersten Dezemberwochenende drohte die Situation zu eskalieren. Nur mit Mühe gelang es dem Neuen Forum, den Sturm auf die noch intakte Stasi-Bastion mit einer Menschenkette zu verhindern.
Auf Vorschläge, vor der Stasi-Besetzung erst einen »kleinen Parteitag« mit Bezirkschef Tzschoppe und Co. einzuberufen, gingen wir nicht ein. Schließlich wollten wir – als »Revolutionäre auf Fahrrädern« – pünktlich sein, und tatsächlich erwarteten uns in der Hegelallee bereits die anmarschierten Polizeiposten. Auch Bezirksstaatsanwalt Bernd war angerückt.
So begann ab zirka 11.30 Uhr die Kontrolle aller Ein- und Ausgänge des MfS-Komplexes. Und zwar direkt durch die Polizei, welche bei dieser speziellen Premiere wiederum durch das Neue Forum sowie die tröpfchenweise eintrudelnde Bürgerschaft kontrolliert wurde. Diese Kontrollen erstreckten sich auf alle das Objekt verlassenden Fahrzeuge und Mitarbeiter(innen). Letztere nutzten – inzwischen war es 12.00 Uhr – ihre Mittagspause, um mit schweren Taschen das Gebäude zu verlassen. Bei dezenten Kontrollen stießen wir aber nicht auf Aktenmaterial, sondern auf Eingewecktes: Paprikaletscho in Gläsern, der noch schnell vor unserem Ansturm gesichert werden sollte.
Zumindest dieses Rettungsmanöver gelang. Der Versuch der Stasi, nur ganze zehn (später dreißig) Bürgervertreter in ihr Heiligtum zu lassen, dagegen nicht: Inzwischen hatte eine Abordnung des Neuen Forums (Rudolf Tschäpe und Detlef Kaminski) im Inneren des Stasi-Komplexes mit Polizei-Oberstleutnant Griebsch und Stasi- (korrekt: Nasi-) Chef Schickart 30 Minuten lang über die Einlaßkonditionen verhandelt. Die draußen schon auf fast 100 Personen angewachsene Menschenmenge verbesserte unsere Verhandlungspositionen von Minute zu Minute, so daß gegen 12.30 Uhr schließlich alle versammelten Bürger den nach dem Mauerfall vier Wochen zuvor vielleicht denkwürdigsten Schritt auf Potsdamer Terrain vollzogen:
Ein gnadenlos agierender Apparat, der über vier Jahrzehnte ein ganzes Volk bespitzelt, terrorisiert und zu entwürdigen versucht hatte, wurde von den Bürgern gewaltlos lahmgelegt. Das Wunder der Friedlichen Revolution hatte seinen zweiten Höhepunkt erreicht. Dabei verhielt sich die – nachdem sich die Nachricht von dieser Aktion wie ein Lauffeuer verbreitet hatte – bis zum Abend auf Hunderte angewachsene Menschenmenge äußerst diszipliniert. Natürlich ließ man einige Schnipsel zuvor eilig vernichteter StasiAkten als Trophäe oder Erinnerungsstück mitgehen. Zu Plünderungen wie Wochen später in der Berliner Normannenstraße kam es jedoch nicht. Fotografien belegen die durchaus unterschiedlichen Reaktionen sicher nicht unvorbereiteter Stasi-Mitarbeiter, die von »lässig arrogant« bis »aufgelöst in Endzeitstimmung« reichten. Die vorher homogen scheinende (unsichtbare) Front zeigte Risse.
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