Stasibesetzung in Potsdam

Die Regierung Kohl/Genscher im Spiel der Kräfte, Regierung Modrow und Runder Tisch, Auflösung des Stasi-Apparats

Stasibesetzung in Potsdam

Beitragvon Interessierter » 7. August 2016, 07:05

Wie die »Fahrrad-Fraktion« die Stasi besetzte.

Seit der Potsdamer Großdemonstration vom 4. November 1989 endete jeder Protestmarsch gegen das SED-Regime in schöner Regelmäßigkeit vor der MfS-Bezirksverwaltung in der Hegelallee mit Sprechchören wie: »Stasi raus!« Spätestens am ersten Dezemberwochenende drohte die Situation zu eskalieren. Nur mit Mühe gelang es dem Neuen Forum, den Sturm auf die noch intakte Stasi-Bastion mit einer Menschenkette zu verhindern.

Auf Vorschläge, vor der Stasi-Besetzung erst einen »kleinen Parteitag« mit Bezirkschef Tzschoppe und Co. einzuberufen, gingen wir nicht ein. Schließlich wollten wir – als »Revolutionäre auf Fahrrädern« – pünktlich sein, und tatsächlich erwarteten uns in der Hegelallee bereits die anmarschierten Polizeiposten. Auch Bezirksstaatsanwalt Bernd war angerückt.
So begann ab zirka 11.30 Uhr die Kontrolle aller Ein- und Ausgänge des MfS-Komplexes. Und zwar direkt durch die Polizei, welche bei dieser speziellen Premiere wiederum durch das Neue Forum sowie die tröpfchenweise eintrudelnde Bürgerschaft kontrolliert wurde. Diese Kontrollen erstreckten sich auf alle das Objekt verlassenden Fahrzeuge und Mitarbeiter(innen). Letztere nutzten – inzwischen war es 12.00 Uhr – ihre Mittagspause, um mit schweren Taschen das Gebäude zu verlassen. Bei dezenten Kontrollen stießen wir aber nicht auf Aktenmaterial, sondern auf Eingewecktes: Paprikaletscho in Gläsern, der noch schnell vor unserem Ansturm gesichert werden sollte.


Zumindest dieses Rettungsmanöver gelang. Der Versuch der Stasi, nur ganze zehn (später dreißig) Bürgervertreter in ihr Heiligtum zu lassen, dagegen nicht: Inzwischen hatte eine Abordnung des Neuen Forums (Rudolf Tschäpe und Detlef Kaminski) im Inneren des Stasi-Komplexes mit Polizei-Oberstleutnant Griebsch und Stasi- (korrekt: Nasi-) Chef Schickart 30 Minuten lang über die Einlaßkonditionen verhandelt. Die draußen schon auf fast 100 Personen angewachsene Menschenmenge verbesserte unsere Verhandlungspositionen von Minute zu Minute, so daß gegen 12.30 Uhr schließlich alle versammelten Bürger den nach dem Mauerfall vier Wochen zuvor vielleicht denkwürdigsten Schritt auf Potsdamer Terrain vollzogen:
Ein gnadenlos agierender Apparat, der über vier Jahrzehnte ein ganzes Volk bespitzelt, terrorisiert und zu entwürdigen versucht hatte, wurde von den Bürgern gewaltlos lahmgelegt. Das Wunder der Friedlichen Revolution hatte seinen zweiten Höhepunkt erreicht. Dabei verhielt sich die – nachdem sich die Nachricht von dieser Aktion wie ein Lauffeuer verbreitet hatte – bis zum Abend auf Hunderte angewachsene Menschenmenge äußerst diszipliniert. Natürlich ließ man einige Schnipsel zuvor eilig vernichteter StasiAkten als Trophäe oder Erinnerungsstück mitgehen. Zu Plünderungen wie Wochen später in der Berliner Normannenstraße kam es jedoch nicht. Fotografien belegen die durchaus unterschiedlichen Reaktionen sicher nicht unvorbereiteter Stasi-Mitarbeiter, die von »lässig arrogant« bis »aufgelöst in Endzeitstimmung« reichten. Die vorher homogen scheinende (unsichtbare) Front zeigte Risse.

Der vollständige Beitrag hier:
http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... 9-kruczek/
Interessierter
 

Re: Stasibesetzung in Potsdam

Beitragvon karnak » 7. August 2016, 08:07

[flash] Nur mal so nebenbei und irgendwie nahe der geschmuggelten Letschogläser.Den Detlef Kaminski, später der"heimliche Oberbürgermeister der Stadt Potsdam ",den kannte ich schon lange vorher.
Meine erste eigene Wohnung,Lenin-Allee 140,Hinterhof,eine üble Bude,die Firma hatte keine für mich,also habe ich mich selber gekümmert. Habe ich beim Verantwortlichen für Wohnungswirtschaft der Bezirksstadt vorgesprochen, Detlef Kaminski hieß der, 500 DDR-Mark habe ich dort"vergessen",danach hatte ich die Bude. Den weiteren Werdegang von Detlef Kaminski kann man leicht nachlesen,nur damit man mal ein paar Vorstellungen hat welche menschlichen Abgründe sich bei ein paar lächerlichen Letschogläser auftun und in welche Dimensionen sich solche Dinge entwickeln können.
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Re: Stasibesetzung in Potsdam

Beitragvon Volker Zottmann » 7. August 2016, 10:58

karnak hat geschrieben:[flash] Nur mal so nebenbei und irgendwie nahe der geschmuggelten Letschogläser.Den Detlef Kaminski, später der"heimliche Oberbürgermeister der Stadt Potsdam ",den kannte ich schon lange vorher.
Meine erste eigene Wohnung,Lenin-Allee 140,Hinterhof,eine üble Bude,die Firma hatte keine für mich,also habe ich mich selber gekümmert. Habe ich beim Verantwortlichen für Wohnungswirtschaft der Bezirksstadt vorgesprochen, Detlef Kaminski hieß der, 500 DDR-Mark habe ich dort"vergessen",danach hatte ich die Bude. Den weiteren Werdegang von Detlef Kaminski kann man leicht nachlesen,nur damit man mal ein paar Vorstellungen hat welche menschlichen Abgründe sich bei ein paar lächerlichen Letschogläser auftun und in welche Dimensionen sich solche Dinge entwickeln können.


Viele Mitarbeiter in allen Bereichen waren bestechlich!
Bei Deinen 500 vergessenen Ostmark wundere ich mich aber sehr.
Der Eine oder Andere mag sich noch erinnern, wie ich zerissen wurde, weil ich beschrieb wie man in Karstädt (Fliesenwerk) bestechen musste, oder dass ich meine halbe Holzfreigabe (die einzige während meiner Selbständigkeit) für meine kleine Firma 1988 im Rat des Kreises schon mit 2 Freigabescheinen erhielt und den einen gleich im Büro lassen musste...

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Stasibesetzung in Potsdam

Beitragvon Interessierter » 21. Februar 2020, 11:49

Ergänzend dazu noch ein Bericht der Märkischen Allgemeinen.

Mutige Potsdamer besetzten Stasi-Zentrale

Im Dezember 1989, einen Monat nach dem Fall der Mauer, bildeten sich in der ehemaligen DDR Kontrollgruppen. Ihre Aufgabe: Die Stasi-Mitarbeiter davon abhalten, wichtiges Beweismaterial zu vernichten. Der Potsdamer Zeitzeuge Manfred Kruczek erinnert sich.

Apathisch wirkender Bürgermeister

Die Potsdamer Bürgerrechtler Anette Flade, Heidrun Liepe, Reinhard Meinel, Rudolf Tschäpe, Detlef Kaminski und Manfred Kruczek kamen am 5. Dezember gegen 10 Uhr ins Büro des Oberbürgermeisters. Das „apathisch wirkende Stadtoberhaupt“, so erinnert sich Kruczek, „musste auf unsere Fragen einräumen, weder Sicherungsmaßnahmen für Sachwerte und Akten eingeleitet zu haben, noch irgendeine Strategie zur Entschärfung der Stasi als nur wenige Meter entfernt tickende Zeitbombe zu verfolgen“.

Selbst die Presse war mittlerweile mutig

Bild
Bürgerrechtler und Uniformierte am 5. Dezember 1989 auf dem Hof der Stasi-Bezirksverwaltung in der Hegelallee. Quelle: Frank Buschner

Über das Diensttelefon des Oberbürgermeisters beorderten sie Volkspolizei, Staatsanwaltschaft und die mittlerweile mutig gewordene Tagespresse vor die Stasi-Zentrale in der Hegelallee. Seit dem 4. November endete fast jede Demonstration mit „Stasi-raus-Rufen“ vor diesem Tor, nun sollte es sich öffnen. Gegen 12 Uhr wurden die ersten drei Verhandlungsführer eingelassen, am Abend waren Hunderte von Potsdamern auf dem weitläufigen Gelände. Günther Rüdiger, ein Aktivist des Neuen Forums, schilderte später: „Ein Stadtviertel tut sich auf. Geradeaus geht’s direkt zum Reißwolf. Säckeweise Papierschnipsel und leere Aktenordner mit Namen und Nummern.“

Stasi-Unterlagen wurden zuvor vernichtet

Generalmajor Helmut Schickart, der als Chef der Bezirksbehörde am 23. November detaillierte Anweisungen zur Aktenvernichtung ausgegeben hatte, wird an diesem 5. Dezember einräumen, dass Unterlagen „weggebracht und vernichtet wurden – unbedeutende Materialien“. Einige der Bürgerrechtler wechseln zum Stasi-Untersuchungsgefängnis in der heutigen Lindenstraße 54. Seit der Amnestie vom 27. Oktober gibt es dort keine politischen Häftlinge mehr. Inhaftiert sind aber noch fünf Autoschieber.

Hier geht es weiter:
https://www.maz-online.de/Thema/Special ... i-Zentrale
Interessierter
 


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