Wie das MfS indirekt für die erste überraschende Besetzung einer BV sorgte

Die Regierung Kohl/Genscher im Spiel der Kräfte, Regierung Modrow und Runder Tisch, Auflösung des Stasi-Apparats

Wie das MfS indirekt für die erste überraschende Besetzung einer BV sorgte

Beitragvon augenzeuge » 10. Januar 2011, 17:02

Die einzige Besetzung einer Bezirksverwaltung, die für das MfS völlig überraschend kam

In Erfurt wurde 1989 die erste Stasi-Bezirksverwaltung besetzt:

"Ja, was wollen Sie hier, was machen Sie hier?" Generalmajor Josef Schwarz schien fassungslos: "Sie behindern meine, unsere Behörde an der Arbeit!" Das sei richtig, bestärkte ihn daraufhin Almuth Falcke, genau deswegen seien sie ja hier.

Zusammen mit neun anderen Frauen war sie am 4. Dezember 1989 vormittags zum Chef der Erfurter Stasi-Bezirksverwaltung (BV) vorgelassen worden. Doch ganz freiwillig hatte der oberste Stasi-Offizier des Bezirkes die zehn Frauen nicht empfangen. Zuvor hatten zahlreiche Erfurter mit ihren Körpern, aber auch mit PKW, Lastkraftwagen und Bussen die Eingänge zur MfS-Bezirksverwaltung blockiert, PKW nur nach Kontrollen und LKW gar nicht mehr passieren lassen. Die Volkspolizei griff nicht ein, sondern wartete auf Befehle aus dem Innenministerium in Ost-Berlin.

"Wir tun hier nichts Unrechtes", versuchte sich Generalmajor Schwarz zu rechtfertigen und fuhr fort: "Sie haben keine Berechtigung, das hier zu machen. Wir handeln nur nach den Gesetzen der DDR." Es war zu spät. "Genau diese Gesetze wollen wir ändern. Und deshalb machen wir dies", entgegnete Almut Falcke in unvorstellbarer Deutlichkeit – und versuchte dabei ihre eigene Angst zu verbergen. Schließlich befand sie sich in der sprichwörtlichen Höhle des Löwen und die zehn Frauen waren hier klar in der Minderheit.

Für den Chef der Erfurter Stasi-Bezirksverwaltung kam die Besetzung offenbar überraschend. Noch fünf Jahre später äußerte er sich erbost über die Ahnungslosigkeit, in der ihn seine Berliner Führung am Montagmorgen seinen Dienst antreten ließ. Schließlich habe es, so interpretiert er Buchveröffentlichungen Hans Modrows und Markus Wolfs, handfeste Informationen und Befürchtungen des Partei- und Regierungslagers im Zusammenhang mit der Leipziger Montagsdemonstration am 4. Dezember 1989 gegeben. Doch "niemand wurde über diese höchst brisante und landesweit geplante Aktion informiert," schimpft er, "kein Ratsvorsitzender, kein Polizeichef, kein Staatsanwalt, keine örtliche Parteileitung, niemand! Wir wurden von unserer Regierung, die zwar erst wenige Tage im Amt war, aber trotzdem die Verantwortung für die innere Sicherheit hatte, genauso im Stich gelassen, wie von Krenz während der überstürzten Öffnung der ‚Mauer‘." 

Auch heute noch, nach verschiedenen zeithistorischen Untersuchungen der Ereignisse, haftet der ersten Besetzung einer Stasi-Bezirksverwaltung etwas unerklärlich Zufälliges, ja fast etwas Geheimnisvolles an. Wie kam es dazu, warum begann ausgerechnet in Erfurt die Serie der Stasi-Besetzungen?

Möglicherweise kam hier der Zufall zu Hilfe – und die begrenzte Fähigkeit der Stasi-Mitarbeiter zur Außensicht auf ihre eigenen Aktivitäten. Im Heizungskeller der Stasi-Bezirksverwaltung war man nämlich tatsächlich gerade eifrig dabei, Akten, Filme, Karteien und anderes zu verbrennen. Doch niemand kam auf die Idee, dass diese Zusatzbefeuerung der ansonsten mit Gas betriebenen Heizung von außen sichtbar war: Dicke schwarze Qualmwolken zogen aus dem Stasi-Schornstein über die Erfurter Innenstadt.

Die Ärztin Kerstin Schön, eine der Gründerinnen der Bürgerinneninitiative "Frauen für Veränderung", die sich im September 1989 aus Aktiven mehrerer Frauenzirkel in Erfurt zusammengefunden hatte,9 rief etliche Bekannte an. Zu Almuth Falcke, der Frau des Erfurter Propstes Heino Falcke, sagte sie: "Du, aus der Andreasstraße werden Container abgefahren, und der Schornstein raucht schwarz!" Eine Telefonkette entstand, die jedoch viele mangels privater Anschlüsse erst auf ihren Arbeitsstellen erreichte. Die Stasi hatte mit Rauchsignalen auf sich aufmerksam gemacht und damit selbst eine Zielmarkierung gesetzt.

Auch als viele Menschen längst schon in der Andreasstraße, dem Sitz der Stasi-Bezirksverwaltung Erfurt, angelangt waren, gingen die Benachrichtigungen weiter. Die Nachricht ging "wirklich wie ein Lauffeuer durch die Stadt."
Zwischenzeitlich waren schon Militärstaatsanwälte eingetroffen. Kurz darauf hatte der stellvertretende BV-Chef verkündet, dass man bereit sei, mit einer Gruppe von zehn Menschen zu sprechen.
Noch während sie ihre Forderungen nach Begehung aller Räume, der Vorlage eines Gebäudeplanes sowie Zugang zum Computer vorbrachten, hatten draußen etwa 200 Menschen das Gelände gestürmt. Möglich war das durch eine Diese hatte sich an einem Hintereingang erfolgreich Zugang zur schon im Gebäude befindlichen Frauengruppe erhandelt. Als sie von den bewaffneten Wachposten durchgelassen worden waren, strömten etliche Menschen nach. Hier stand das Eisentor offen und es war lediglich eine Schranke herabgelassen worden. Gleichzeitig hatten neue Rauchschwaden aus dem Schornstein die Stimmung unter den Wartenden aufgeheizt.

Die Eindringlinge bildeten danach Gruppen von jeweils knapp zehn Menschen und nahmen – immer gemeinsam mit einem Stasi-Mitarbeiter – eine Hausbegehung vor. Dabei fand man auch die sogenannte Datenendstelle, also den Zugang zum Berliner Zentralcomputer der Stasi. Ulrich Scheidt, der bei dieser Begehung dabei war, hatte die Idee, diesen Raum zu bewachen. Das war praktisch die Geburtsstunde der Erfurter Bürgerwache – und letztlich auch das Ende der unbeschränkten Handlungsfreiheit der Stasi.

Das Erfurter Vorgehen stellte einen absoluten Tabu-Bruch dar. Mit Sicherheit war die Erfurter Besetzung die einzige, die für die Stasi völlig unvorbereitet kam. Möglicherweise deshalb ging es hier auch etwas rauer zu, als in anderen Bezirken. Manfred Otto Ruge, Stasi-Besetzer und von 1990 bis 2006 Oberbürgermeister Erfurts, erinnert sich an eine Drohung eines Stasi-Offiziers: "Glaubt nicht, dass das unsere letzte Aktion ist. In 14 Tagen hängt Ihr alle an den Bäumen!"(Dokumentiert von Dornheim, Erfurt)

Der von den Demonstranten gerufene Militärstaatsanwalt habe, als er offenbar keine andere Möglichkeit mehr sah, den Erfurter Stasi-General Schwarz aufgefordert: "Josef, nimm Deinen Leuten die Waffen ab – diese Runde haben wir verloren."

Fünf Jahre später hat sich die Resignation für Ex-Generalmajor Schwarz aber in bewusste Besonnenheit gewandelt und er heftet sich selbst einen Revolutionsorden an: "Man überließ uns ganz allein die Verantwortung und gegebenenfalls den ‚Schwarzen Peter‘. Wenn später soviel von einer ‚sanften, gewaltfreien Revolution‘ gesprochen wurde, dann möchte ich daran erinnern, dass diese nur möglich war wegen unseres besonnenen Handelns. […] Trotz intakter Strukturen und vollständiger Bewaffnung ließen wir die Besetzung über uns ergehen, ohne dass auch nur ein Schuss fiel.“
Quelle: http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... -63/06307/

Anmerkung AZ: Herrn Schwarz war damals sicher genau klar, was mit ihm passiert, wenn er schiessen lassen würde..... dazu war er zu lange im Geschäft....[angst]

Siehe hierzu auch: http://www.bundesregierung.de/Content/D ... tzung.html

[wink]
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