von manudave » 23. Juli 2010, 19:40
Festnahmepläne
Für den "Tag X" in der DDR war alles genauestens geplant. Nichts hatte die Stasi dem Zufall überlassen. Mit deutscher Gründlichkeit wurden über die festzunehmenden Personen Formblätter mit Name, Adresse, Foto, Hinweisen auf Verbindungen zu anderen Personen etc. angelegt und stets aktuell gehalten. Es wurde sogar vermerkt, ob sich die "Klingel an der Haustür" oder "… an der Wohnungstür" des Opfers befand und ob das Haus "weitere Ausgänge" hatte. Um alle Zufälle auszuschließen lag eine Lageskizze des Hauses samt Foto bei. Stärke und Ausrüstung der Festnahmegruppen waren festgelegt; sie verfügten über einen PKW, 1 UKW-Sprechfunkgerät, 2 Maschinenpistolen, Knebelketten, Handschellen und Schlagstöcke sowie Taschenlampen und Schreibgerät.
Nach der Verhaftung sollten die für die Isolierung vorgesehenen Personen zunächst in "zeitweilige Isolierungsstützpunkte" transportiert werden. Deren genaue Zahl ist nicht bekannt. Man wird aber davon ausgehen können, dass 1989 alle 211 Kreisdienststellen des MfS einen solchen Stützpunkt vorgesehen hatten. Diese konspirativ aufgeklärten und vorbereiteten Stützpunkte (in Ferienlagern, Lehrlingsheimen, Gaststätten, Messehallen u. ä.) sollten innerhalb kürzester Zeit (X + 8 bis 12 Stunden) volle Aufnahmebereitschaft aufweisen. Wo die Möglichkeit bestand, wollte man die Isolierungsstützpunkte direkt in den Gebäuden der MfS-Dienststellen einrichten.
Nach etwa sechs Tagen war dann in der Regel der Abtransport in die zwischenzeitlich hergerichteten "zentralen Isolierungsobjekte" geplant.
Beispiel Kreisdienststelle Seelow:
Die Kreisdienststelle Seelow, nahe der polnischen Grenze bei Frankfurt/Oder gelegen, hatte als zeitweiliges Isolierungsobjekt zwei Garagen für 25 bzw. 10 Personen vorgesehen. Diese sollten mit einem 2 Meter hohen Eisengitter und Wachhunden gesichert und mit einer 10 Quadratmeter Liegefläche mit Stroh, einem transportablen "WC-Kübel" sowie Sitzbänken "ausgestaltet" werden. Wer länger als 12 Stunden "zugeführt" war, durfte entsprechend der "Verpflegungsnorm" (pro Person 0,50 M) auf 300 g Brot und 2 Liter warme oder kalte Getränke hoffen."
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Isolierungslager
Als zentrale Isolierungslager hatte die Stasi in vielen Bezirken Burg- und Festungsbauten vorgesehen; so etwa im Bezirk Karl-Marx-Stadt die Festung Augustusburg unter dem Decknamen "Gitter 1". Dort sollten 6000 Personen eingesperrt werden. Ein weiteres Lager (Deckname "Gitter 2"), dessen geplanter Standort bis heute nicht bekannt ist, war für die Inhaftierung von weiteren 5000 Personen konzipiert.
Detailliert schreiben die "Grundsätze zur Vorbereitung und Durchführung der Isolierung sowie der Gewährleistung der inneren und äußeren Sicherheit der Isolierungsobjekte der Arbeitsgruppe des Ministers" vom 14. November 1983 Einrichtung, Sicherung und Betrieb der zentralen Isolierungslager vor. Diese sollten z. B. "mindestens 60 km von der Staatsgrenze zur BRD entfernt" außerhalb geschlossener Ortschaften "aber in vertretbarer Entfernung zum Arbeitseinsatzbetrieb" liegen; denn "Isolierte können zu gesellschaftlich notwendigen Arbeiten eingesetzt werden" heißt es unter Punkt 3.5 der Vorschrift. Im Klartext: Die Isolierungslager waren - wenn möglich - als Zwangsarbeitslager konzipiert.
Auch sonst hatte man an alles gedacht: an "Fingerabdruckbogen", "Kurzbeurteilungsblatt" und die "Kennzeichnung der Bekleidung". Danach hatte der "Stuben- bzw. Unterkunftsälteste" … "1 Ärmelstreifen grün 2 cm breit" zu tragen, der "Objektälteste" hatte "3 Ärmelstreifen grün 2 cm breit", der "Schichtleiter" eine "gelbe Armbinde - SL - Buchstaben schwarz - am linken Oberärmel der Oberbekleidung" zu tragen, während "die Ärmelstreifen… in einer Länge von 10 cm auf ein Stoffstück in der Farbe der Oberbekleidung aufzunähen und dieses auf den linken Unterärmel der Oberbekleidung - 13 cm vom unteren Rand entfernt - quer anzubringen" waren.
Schlimme Tradition
Die Verhaftung missliebiger Bürger und ihre Überstellung in gesonderte Lager ist für Diktaturen charakteristisch und stellt, zumal in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, kein Novum dar. Zum Einen dürften die Planungen des MfS Entsprechungen im sowjetischen Gulag-System finden.
Geradezu erschreckend ist jedoch die Ähnlichkeit des Vorbeugekomplexes mit analogen Aktivitäten des Nazi-Regimes. Am 7. Juli 1938 richtete der damalige Chef der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD), SS-Gruppenführer Reinhard Heydrich, an alle Gestapo-Leitstellen ein Schreiben, welches die Erstellung einer so genannten A-Kartei über potentielle Staatsfeinde verfügte. Sie sollten im Spannungsperioden und im Fall der Mobilmachung festgenommen werden. Die Kartei war nach einem Kennziffernsystem in drei Gruppen (A1, A2 und A3) gegliedert.
* Die Gruppe A1 umfasste "alle diejenigen Staatsfeinde, die ob ihrer besonderen Bedeutung und Gefährlichkeit schon bei der Einleitung der getarnten Vorausmaßnahmen für die allgemeine Mobilmachung festgenommen werden müssen."
* Die unter der Kennziffer A2 erfassten Personen sollten bei der öffentlichen Anordnung der Mobilmachung verhaftet werden.
* In die Gruppe A3 waren Personen eingegliedert, die zwar die staatliche Sicherheit nicht unmittelbar gefährdeten, "die aber in Zeiten schwerer Belastungsproben und der durch sie verursachten innerpolitischen Spannungen als politisch so gefährlich angesehen werden müssen, dass ihre Festnahme oder ihre besondere Überwachung ins Auge gefaßt werden muß."
In seiner Anordnung bestimmte Heydrich auch, wer in der A-Kartei zu erfassen sei. Dies waren vor allem Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerlich-konservative Kräfte, Vertreter des politischen Katholizismus, so genannte Wirtschaftsschädlinge bis hin zu einfachen Querulanten. Eine weitere Anordnung des Leiters der Sicherheitspolizei, SS-Brigadeführer Werner Best, an die Gestapo-Leitstellen vom 28. September 1938 verfügte, was mit den Festgenommenen zu geschehen habe. Sie sollten zunächst in Polizei- oder Gerichtsgefängnissen eingesperrt und baldmöglichst in die Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und in ein neu zu errichtendes Lager in Ostpreußen verbracht werden.
Insofern befand sich das MfS mit dem Vorbeugekomplex in schlimmster deutscher Tradition.
Polen 1981
Dass es sich bei den konspirativen Machenschaften des MfS nicht um Planspiele eines unterbeschäftigten Sicherheitsapparates handelte, zeigt das polnische Beispiel. Als in der Nacht vom 12. zum 13. Dezember 1981 in Polen der "Militärrat der Nationalen Errettung" (WRON) den Kriegszustand verkündete, befanden sich auch "Operativgruppen" des MfS vor Ort, die das Geschehen aufmerksam verfolgten. Sie dürften dabei wichtige Erkenntnisse für ihre eigenen Planungen gewonnen haben. Die polnische Miliz und der Sicherheitsdienst nahmen in jenen Tagen rund 6500 Oppositionelle und Aktivisten der verbotenen Gewerkschaft Solidarnocz fest und transportierten sie in eilig eingerichtete Lager.
Anfang März 1982 befanden sich nach offiziellen polnischen Angaben noch etwa 4000 Personen in den Lagern. Manchen von ihnen blieben jahrelang in Haft. Ein Bericht der MfS-Späher aus Danzig vom 15. März 1982 gibt Ausführungen des dortigen Wojewodschaftskommandanten der Miliz, Oberst Andrezejewski, zum Kriegszustand wieder. Danach wurden in der Wojewodschaft Danzig noch 289 Personen in Internierungshaft festgehalten. Weitere 164 Personen seien wegen "Verletzung der Festlegungen über den Kriegszustand" verhaftet, 44 davon bisher abgeurteilt worden. Weiterhin seien 5.051 Personen von gesellschaftlichen Gerichten, den so genannten Kollegien, wegen desselben Delikts mit anderen Strafen, zumeist Geldbußen, belegt worden.
Parteichef Jaruzelski rechtfertigte im Dezember 1985 das Vorgehen der polnischen Sicherheitsorgane: "Die Isolierung einer Gruppe von Menschen, die notorisch das Recht verletzen und die seinerzeit Organisatoren des Streikterrors waren - von daher kann man von Terroristen sprechen, [stellen] - im breiteren konventionellen Sinne des Wortes - auch eine Form der Selbstverteidigung des Staates" dar.
Wie in der DDR waren auch in Polen die Lagerplanungen lange vor Verkündung des Kriegszustandes erarbeitet worden.
Revolution 1989
Telegrafische Weisung Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten (zum Vergrößern anklicken)
Telegrafische Weisung Mielkes an die Leiter der Diensteinheiten (zum Vergrößern anklicken)
Am 8. Oktober 1989 schienen Honecker und Mielke noch entschlossen, Stärke zu demonstrieren. In einem Fernschreiben an die 1. Sekretäre der Bezirksleitungen der SED ordnete der Staats- und Parteichef die sofortige Zusammenkunft der Bezirkseinsatzleitungen an. Sie sollten die nötigen Schritte beschließen, um die Lage in den Bezirken in den Griff zu bekommen. Am gleichen Tag schickte auch Mielke ein Fernschreiben der höchsten Dringlichkeitsstufe an die Leiter sämtlicher Diensteinheiten. Er befahl die "volle Dienstbereitschaft" und das ständige Tragen von Waffen (siehe Blatt 1). Der Befehl zur sofortigen "Einschätzung und Neubewertung" der laufenden operativen Überwachungsvorgänge bedeutete nichts anderes als die erste Stufe für das Anlaufen des Vorbeugekomplexes (Blatt 3).
Beispiel Rostock:
Der Chef der Bezirksverwaltung Rostock, Generalleutnant Mittag, befahl am 9. Oktober 1989 den Leitern der Kreisdienststellen in seinem Bezirk: "In Durchsetzung der angewiesenen Maßnahmen haben Sie unverzüglich eine differenzierte Neubewertung der laut Kennziffer 4.1. (Vorbeugemaßnahmen) sowie der in OV/OPK (Operativer Vorgang bzw. Operative Personenkontrolle - waren personenbezogene Akten, die das MfS führte, um Menschen strafrechtlich zu verfolgen und überwachen zu können) und anderen operativen Materialien erfassten bzw. bearbeiteten Personen vorzunehmen. Es geht darum, alle Personen von denen gegenwärtig eine besondere Gefährdung der staatlichen Sicherheit und Ordnung ausgehen könnte, herauszuarbeiten."
Beispiel Leipzig:
Aus der MfS-Kreisdienststelle Leipzig ist eine Aufstellung an den Chef der Arbeitsgruppe des Leiters der Bezirksverwaltung vom 9. Oktober 1989 überliefert. Sie trägt den bürokratisch korrekten Titel - "Im Rahmen des Vorbeugekomplexes zuzuführende Personen, die dem politischen Untergrund zuzuordnen sind" - und umfasst 122 Personen mit Wohnanschrift und anderen Angaben. Als Gründe für die Erfassung werden z.B. angegeben: "Exponent der PUT" (politische Untergrundtätigkeit), "Verbindung westliche Massenmedien", "Träger Aufnäher ‚Schwerter zu Pflugscharen'", "Verteiler von Hetzblättern ‚Neues Forum'", "ständiger Nichtwähler", "negativer Wortführer", "ständiger Teilnehmer Nicolaikirche", "Beschimpfung MfS als Nazis", "Demo beantragt".
Spätestens Mitte Oktober 1989 dürfte den politisch Verantwortlichen klar geworden sein, dass die Revolution durch Maßnahmen wie den Vorbeugekomplex nicht mehr zu stoppen war. Dennoch bemerkte Mielke am 21. Oktober in einem Referat vor der Generalität des MfS im Hinblick auf die täglichen Demonstrationen auch vor MfS-Dienstobjekten: "Das hinterlässt doch bestimmte Wirkungen, zumal wir aus den bekannten Gründen zurückhaltend darauf reagieren, nicht so antworten, wie es diese Kräfte eigentlich verdienen. Deshalb ist es so wichtig, daß alles unternommen wird, alle mit solchen Handlungen auftretenden Personen zu erkennen, sie sorgfältig zu erfassen und das zugriffsbereit zu halten". Auch wenn die "kurzfristige Realisierung von Zuführungen und Festnahmen" nicht mehr auf der Agenda stand, so hegte wohl Mielke immer noch die Hoffnung, irgendwann losschlagen zu können.
Beispiel Rudolstadt und Eberswalde:
Die Kreisdienststelle Rudolstadt im Bezirk Gera legte noch am 27. Oktober 1989 Auskunftsberichte zum Vorbeugekomplex an.Die Kreisdienststelle Eberswalde im Bezirk Frankfurt/Oder erstellte sogar noch nach dem Fall der Mauer zwischen dem 10. und 13. November 1989 Listen, in denen die dortigen Aktivisten der Opposition für den Vorbeugekomplex erfasst waren.
Quelle der Berichte BSTU
Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein!