Erfolgte Schabowskis Pressekonferenz nach "konspirativer Regie" / Der anonyme Anruf für Ehrmann
Erfolgte die Bekanntgabe der Maueröffnung 1989 nach einer konspirativen Dramaturgie? Hat möglicherweise SED-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski selbst mit Hilfe der DDR-Nachrichtenagentur ADN die Fäden gezogen? Der Journalist Riccardo Ehrmann, 1989 in Ostberlin akkreditierter Korrespondent der italienischen Nachrichtenagentur ANSA, hat nach eigenen Angaben vor der legendären Pressekonferenz Schabowskis am 9. November einen anonymen Anruf erhalten. „Du musst heute abend nach der Reisefreiheit fragen…“ berichtete Ehrmann Mitte April 2009 in der Fernsehsendung „titel-thesen-temperamente“ (ttt) des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR). Und Hans-Hermann Hertle, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums Zeithistorische Forschung Potsdam, sagte in der gleichen Sendung, es sei in der DDR Praxis gewesen, ausländischen Journalisten vor Pressekonferenzen Fragen „zu stecken“.
Nach der Veröffentlichung eines ersten neuen Reisegesetzes am 6. November erntete die DDR-Führung Kritik der Tschechoslowakei, dass DDR-Bürger zunehmend über dieses Land in den Westen „ausreisten“ und sich neue Flüchtlinge bereits auf das Gelände der westdeutschen Botschaft in Prag begeben hätten. Deshalb entschloss man sich im Politbüro das Problem der ständigen Ausreise "grundsätzlich freizügiger" zu lösen. Am 9. November berieten Politbüro und Zentralkomitee (ZK) der SED in Ostberlin darüber. Politbüromitglied Schabowski war zwar in der Politbürositzung anwesend, musste aber nach eigenen Angaben die anschließende ZK-Sitzung zu Gesprächen mit Journalisten mehrmals verlassen. SED-Generalsekretär Egon Krenz händigte ihm vor der Pressekonferenz noch eine Seite mit dem neuen Reisegesetz aus. Krenz sagte dabei: "Das wird bestimmt ein Knüller."
Zur gleichen Zeit etwa bekam der Journalist Ehrmann jenen eigenartigen Anruf. Es meldete sich, so berichtete Ehrmann im April 2009 zunächst in der MDR-Fernsehsendung "ttt", „ein Mann von dem Unterseeboot“, der sich als der Leiter des Büros ausgab. (Als U-Boot "firmierte" unter eingeweihten Journalisten ein Konferenzsaal im Gebäude der DDR-Nachrichtenagentur ADN.) Der Unbekannte am Telefon habe gesagt, die Pressekonferenz an diesem Abend sei wichtig und Ehrmann müsse nach der Reisefreiheit fragen. Fast kam der italienische Journalist zu der Veranstaltung zu spät. Er drängelte sich durch die vollbesetzten Sitzreihen des ehemaligen Kinos, das der SED und der DDR-Regierung nun als Pressezentrum diente. Ehrmann fand keinen freien Sitzplatz mehr und hockte sich vorn auf die Bühnenrampe. Von dort konnte er dem auf der Bühne sitzenden Schabowski direkt in die Augen sehen. Die mit dem ominösen Anruf in Gang gesetzte Dramaturgie „lief nun ihren letzten sozialistischen Gang“.
Als Ehrmann sich um 18.53 Uhr als Stichwortgeber zum Thema meldete, unterbrach der SED-Sprecher sofort einen britischen Journalisten und erteilte dem Italiener das Wort. Und der fragte laut Protokoll: „Sie haben von Fehlern gesprochen. Glauben Sie nicht, dass es war ein großer Fehler, diesen Reisegesetzentwurf, das Sie haben vorgestellt vor wenigen Tagen?“ Schabowski eierte zunächst in alter Politbüromanier herum, bevor er zur Sache kam: „Und deshalb haben wir uns heute entschlossen, eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR ermöglicht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“
Und nun wurde es spannend wie wohl noch nie in der Geschichte der DDR – spannend in dieser Pressekonferenz, aber auch in den vielen Privathaushalten an den Fernsehgeräten, denn diese Veranstaltung wurde vom DDR-Fernsehen übertragen und überall in Ostdeutschland aufmerksam gesehen, aber auch im Westen. Auf die Zwischenfrage eines Journalisten, ab wann das in Kraft trete, blätterte Schabowski in seinen Unterlagen und las vor:
Das Politbüromitglied habe ihm später gesagt, so Ehrmann, „dass ich ihn sehr nervös gemacht hätte“…
Bei dem U-Boot, aus dem jener ominöse Anruf an Ehrmann kam, handelt es sich laut Hertle vom Zentrum für Zeithistorische Forschung um den Konferenzsaal des Chefs der DDR-Nachrichtenagentur ADN. Er vermutet, dass der Anrufer ADN-Chef und SED-ZK-Mitglied Günter Pötschke persönlich gewesen sein könnte. Laut Hertle ist Pötschke 2006 gestorben. In seinen Aufgabenbereich fiel damals auch die Herausgabe von Pressemitteilungen von SED und DDR-Regierung. „Wichtiger als die Frage, die Ehrmann gestellt hat, ist die Antwort, die Schabowski in der Pressekonferenz gegeben hat und die Verwirrung, mit der er auf die Frage geantwortet hat“, bewertete Hertle in der MDR-Fernsehsendung die jetzt nochmals zur Sprache gekommenen Ereignisse von jenem Abend. Ein Interviewtermin mit dem MDR-Team sagte Schabowski damals aus Krankheitsgründen ab.
In der DDR machten sich nach Bekanntwerden von Schabowskis Ankündigung Millionen von DDR-Bürgern mit dem Trabant oder zu Fuß auf die Socken zum nächsten Grenzübergang Richtung Westen. Aber nicht um abzuhauen, sondern nur um zu sehen, wie es dort wirklich aussieht. Die westdeutschen Bundestagsmitglieder, die am besagten Abend im zu der Zeit als Parlament dienenden ehemaligen Bonner Wasserwerk tagten, erhoben sich bei Bekanntwerden der Ereignisse und stimmten spontan die Nationalhymne „Einigkeit und Recht und Freiheit“ an. Riccardo Ehrmann (Bild oben links) wurde für seinen „Beitrag zur Wiedervereinigung“ in der Mauer öffnenden Pressekonferenz mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Schabowski absolvierte nach dem Zusammenbruch des SED-Regimes und der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten zahlreiche Fernsehauftritte zum Thema Mauerfall 1989. Immerhin war er ein wichtiger Zeitzeuge.
***Nachklapp: Am 28. April 2009 beantwortete Riccardo Ehrmann im TV-Sender Phoenix nochmals Fragen zum Thema Mauerfall 1989. Und dort räumte auch er nun ein: Ihm sei am 9. November 1989 von seinem langjährigen Freund, ADN-Chef Günter Pötschke, telefonisch gesteckt worden, dass es in der Schabowski-Pressekonferenz abends um Reisefreiheit gehe. In seiner Aussage im MDR Mitte April habe er, wie es für Journalisten "heilig" sei, noch über seinen Informanten schweigen müssen. Nun, da er aber erfahren habe, dass Pötschke seit drei Jahren tot sei, könne er offen sprechen... hpf
War Schabo wirklich der "Zettel-Depp"?
Im DDR-Ministerium des Innern „basteln“ in der Nacht vom 8. Auf den 9. November 1989 vier Männer auf Weisung des SED-Politbüros an einer neuen Reiseregelung: Gerhard Lauter, Hauptabteilungsleiter für Pass- und Meldewesen im Ministerium, Gotthard Hubrich, Leiter der Hauptabteilung Innere Angelegenheiten des Ministeriums, die beiden Stasi-Obersten Hans-Joachim Krüger und Udo Lemme. Arbeitstitel ist „Unverzügliche Visaerteilung für ständige Ausreisen". Lauter berichtet später über diese nächtliche Stressaktion, dass eigentlich eine Regelung für Bürger erarbeitet werden sollte, die aus der DDR für immer ausreisen wollten. „Aber diejenigen, die nur einmal Verwandte im Westen besuchen und dann wiederkommen wollten, nicht herauszulassen, wäre doch schizophren gewesen“, schilderte der einstige DDR-Ministerialbeamte das Problem. Stattdessen haben die Vier einen Passus in das Papier „geschummelt“, in dem von „Privatreisen nach dem Ausland“ die Rede ist, die „ohne Vorliegen von besonderen Voraussetzungen beantragt werden können". Und das haben am 9. November 1989 SED-Politbüro und -Zentralkomitee "geschluckt", bevor Schabowski damit vor die internationale Presse ging.
Doch der größte Witz ist, als Schabowski die neue Reiseregelung kurz vor 19 Uhr am 9.11. in seiner Pressekonferenz verkündet und sagt "Nach meiner Ansicht ist das unverzüglich.. sofort", hat der Ministerrat der DDR zu diesem Zeitpunkt die Regelung noch gar nicht beschlossen. Natürlich hatte das SED-Politbüro mit SED-Generalsekretär Krenz als "höchstes Führungsorgan" das eigentliche "letzte Wort", aber nach außen hin spielte man "Demokratie" und überließ den "scheinbar formellen" Beschluss in solchen Fällen dem Ministerrat. (Eigentlich war ja die Volkskammer "das höchste Gesetz gebende Organ der DDR"??? Aber die hätte man in der Hektik und dem Stress sowieso nicht so schnell "zusammen trommeln" können. )So war wie meistens auch an diesem frühen Abend die schriftliche Pressemitteilung schon eher fertig als das "endgültige Abnicken" des Ministerrates zu dem Thema.
Links neben Schabowski saß auf dem Bühnenpodium in der Pressekonderenz DDR-Außenhandelsminister Gerhard Beil. Er versuchte den DDR-Pressesprecher und dessen "Irrtum" noch zu stoppen, indem er Schabowski zuflüsterte "Das muss der Ministerrat noch beschließen", und dem Politbüromitglied dann sogar einen Zettel zuschob. Aber es blieb bei "Schabos" (sein Spitzname im Politbüro) gestammeltem: Dass das mit der Grenzöfnung "unverzüglich... ab sofort" gelte...
**Und Schabowski bestreitet bis heute, dass ihn Krenz nochmals auf die bis 10. November 1989 morgens vier Uhr geltende Sperrfrist zur Veröffentlichung hingewiesen habe: "Nein, Krenz hatte mir nichts von einer Sperrfrist gesagt." Der "Zettel" habe ebenfalls keinen Sperrvermerk enthalten.** Eine Frage kann allerdings auch von BStU-Seite nicht beantwortet werden: Warum "Schabowskis Zettel" als Quellhinweis oben ADN enthält, den Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst der DDR, und genau wie die von ADN vorbereitete Pressemitteilung zur neuen Reiseregelung aussah?
(Mit Sternchen eingefasster Text **.....** Quelle: "Wir haben fast alles falsch gemacht - Die letzten Tage der DDR", Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Sieren, erschienen 2009 bei Econ, Ullstein Buchverlage Berlin)
Bleibt dennoch die entscheidende Frage offen: Hat Schabowski selber die Weichen für diese Pressekonferenz und in der Veranstaltung so gestellt, dass er in die spätere Geschichtsschreibung als „Öffner der Berliner Mauer“ eingeht? Denn Ex-SED-Chef Krenz hat später bei Fernsehinterviews immer wieder betont, Schabowski sei nur autorisiert gewesen, die Reiseregelungen zu verkünden. Dass das "ab sofort - dem 9.11.1989" gelte, so beteuerte Krenz mehrmals, sei so nicht vorgesehen gewesen. Als die Massen am Abend spontan erst an den Grenzübergang Bornholmer Straße strömten, der unter dem Druck der Ostberliner zuerst geöffnet wurde, und dann an die anderen Übergänge, hatten die dort Dienst tuenden Stasileute und die übrigen Grenzpolizisten noch keinen Befehl zur Grenzöffnung. Und nun offenbarte sich, in welchem Chaos SED-Führung und DDR-Regierung steckten. Die Grenzen wurden auch ohne die persönliche Anordnung von Krenz aufgemacht, der zu diesem Zeitpunkt noch als SED-Chef und Vorsitzender des DDR-Verteidigungsrates eigentlich die alleinige Macht dazu hatte.
Eine Bekanntgabe, dass die neue Reiseverordnung erst einen Tag später am 10. November 1989 in Kraft trete, hätte zumindest Grenztruppe, MfS und Polizei noch die Frist eingeräumt, sich auf den zu erwartenden Menschenansturm auf sämtliche Grenzübergänge in Berlin und an der innerdeutschen Grenze einzustellen. Aber der "von Schabos Versprecher vorgezogene Mauerfall" hat doch auch bewiesen, dass zumindest an den Grenzübergangsstellen die Passkontrolleinheit des MfS und die dort diensthabenden Grenzsoldaten trotz Überrumpelung sich schnell der neuen Lage anpassen - improvisieren konnten. Krenz lobte sogar hinterher die "Umsicht der bewaffneten Organe" an den Übergängen nach Berlin (West) und in die Bundesrepublik, "die am späten Abend des 9.11.89 in dem Durcheinander drohende Zwischenfälle verantwortungsvoll vermieden haben". hpf