Als Honecker nicht mehr weinen wollte

Kommunalwahlfälschungen, Ausreisebewegung und eine sich neu formierende Opposition

Als Honecker nicht mehr weinen wollte

Beitragvon andr.k » 1. Oktober 2014, 12:32

"Man sollte ihnen keine Träne nachweinen": Mit diesem verstörenden Satz über die Botschaftsflüchtlinge von Prag erklärte der SED-Generalsekretär am 1. Oktober 1989 im Fernsehen seine Kapitulation.

Von Oliver Michalsky Stv. Chefredakteur / Die Welt


Es war einer dieser Abende, an denen man glaubte, in der "Aktuellen Kamera" etwas zu erfahren, was mit der Realität zu tun hat. In der Hauptnachrichtensendung des DDR-Fernsehens um 19.30 Uhr war gewöhnlich die Rede von tatkräftigen Erntekapitänen, von alle Normen überbietenden Jugendbrigaden und steigenden Erfolgen bei der Erfüllung der Hauptaufgabe, der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. Natürlich von der Verderbtheit des Kapitalismus drüben.

Und obwohl ganz offenkundig alles "vervollkommnet" und "noch besser" wurde, lag da einiges in der Luft am 1. Oktober 1989. Dinge, die nicht ins Weltbild der "AK" passten. Das Neue Forum war vor ein paar Tagen gegründet und vom DDR-Innenministerium umgehend als "staatsfeindlich" entsorgt worden, obwohl die Gruppe um Bärbel Bohley und Katja Havemann diese DDR gar nicht beseitigen wollte.

Margaret Thatcher hatte diesem ungewöhnlichen Kommunisten Gorbatschow gerade erst versichert, eine Wiedervereinigung Deutschlands liege nicht in ihrem Interesse. In Leipzig regte sich rund um die Nikolaikirche anschwellender Montagsaufruhr, längst nicht nur derjenigen, die ausreisen wollten. Hans-Dietrich Genscher hatte tags zuvor in Prag den größten unvollendeten Satz der deutschen Geschichte gesagt: "Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …"

Vor dem Fernseher wie vom Donner gerührt

Die deutsche Welt war aus den Fugen geraten, ich saß um 19.30 Uhr mit meiner künftigen Frau vor dem Fernseher. Zwei Mittzwanziger auf dem Weg ins kleine private DDR-Glück und bestimmt keine Helden. Und wir waren wie vom Donner gerührt. Es war so unerhört, was da verlesen wurde über jene, die zu Tausenden die DDR über Ungarn oder die Tschechoslowakei verlassen hatten, dass es festgehalten werden musste.

Notizzettel-Honecker-keine-Traene.jpg
"Man sollte ihnen keine Träne nachweinen": Auf einem rasch zur Hand genommenen Schmierzettel notierte Oliver Michalsky, der Autor dieses Artikels, vor 25 Jahren die Worte Honeckers Foto: Oliver Michalsky

Hastig griff ich nach einem Zettel, auf dem wir bei Karten- oder Brettspielen die Punkte addiert hatten. Mit flüchtiger Schrift steht da, garniert von einem Kaffeefleck:

"Sich selbst aus der Gesell ausgegrenzt"

"Heim ins Reich Psychose"

"Sie schaden sich selbst"

"Kein Platz mehr im gesell Leben"

"moralische Werte mit Füßen getreten"

"man sollte ihnen keine Träne nachweinen"

"Man sollte ihnen keine Träne nachweinen." Wir schauten uns ungläubig an und mir schossen unwillkürlich so ein paar Goebbels- und Hitlerzitate aus den letzten Tagen des kollabierenden Dritten Reichs durch den Kopf, nach denen das deutsche Volk es nicht verdient habe, weiterzuexistieren. "Man sollte ihnen keine Träne nachweinen": Der Vater verstößt seine unartigen Kinder. Der Herr seine undankbaren Untertanen.

Honecker selbst redigierte den Satz ins ADN-Manuskript

Überhaupt: Was war das für ein Ton? Galt nicht bis eben noch die überall plakatierte Parole "Alles für das Wohl des Volkes"? Und jetzt weinen wir DDR-Bürgern keine Träne mehr nach? Klar, das konnte nicht irgendein Redakteur der staatlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN geschrieben haben. Das musste von "ganz oben" kommen. Wie sich kurze Zeit später herausstellte, war es tatsächlich Erich Honecker selbst, der diesen entscheidenden, demaskierenden Satz in den ADN-Text hineinredigiert hatte.

Es lohnt sich, den Text, der am 2. Oktober 1989 von DDR-Zeitungen wiedergegeben wurde, in seinen zentralen Passagen als wichtiges Dokument der Zeitgeschichte zu rekapitulieren:

"Zügellos wird von Politikern und Medien der BRD eine stabsmäßig vorbereitete 'Heim-ins-Reich'-Psychose geführt, um Menschen in die Irre zu führen und auf einen Weg in ein ungewisses Schicksal zu treiben. Das vorgegaukelte Bild vom Leben im Westen soll vergessen machen, was diese Menschen von der sozialistischen Gesellschaft bekommen haben und was sie nun aufgeben.
Sie schaden sich selbst und verraten ihre Heimat. Nun werden einige Bürger der DDR an uns mit Recht die Frage stellen, warum wir diese Leute über die DDR in die BRD ausreisen lassen, obwohl sie grob die Gesetze der DDR verletzten.
Die Regierung der DDR ließ sich davon leiten, daß jene Menschen bei Rückkehr in die DDR, selbst wenn das möglich gewesen wäre, keinen Platz mehr im normalen gesellschaftlichen Prozeß gefunden hätten … Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.
Wie es ihnen drüben ergeht, zeigen jetzt schon einige Berichte aus der BRD. Einige wurden bereits aus Arbeitsstellen entlassen, weil sie während der Arbeit Besorgungen machen wollten."

Fort war er, der Popanz um die SED

Was war das denn? Waren nicht alle optimistisch-heiter gestimmt angesichts des bevorstehenden 40. Jahrestages der DDR? Stand nicht in der größten DDR aller Zeiten der Mensch im Mittelpunkt allen Strebens? Hat Erich Honecker im Ärger über Prager Jubelszenen und Leipziger Montagsdemonstrationen die Nerven verloren? Kaum. Der SED-Generalsekretär hat an jenem Tag im Affekt der Beleidigung über sein widerspenstiges Staatsvolk die Wahrheit rausgelassen.

Fort war er, der Popanz um die SED als Partei der Arbeiterklasse, die die werktätigen Bauern mag, den Rest der Bevölkerung duldet und gleichzeitig höher besteuert. Es war die Kapitulation eines intellektuell limitierten Funktionärs, machtbesessen und entfremdet von dem, was in seinem 17-Millionen-Staat brodelte. Eines Parteikaders, der sein Volk einschloss und am Ende nicht verhindern konnte, dass insgesamt vier Millionen in den Westen "rübermachten".

Auch, weil er nicht verstand, warum es vielen Menschen zu eng wurde in der DDR, dem zeitweilig mit Selbstschussanlagen nach innen abgeschotteten, militärisch durchorganisierten Land von Fahnenappell, Wehrkundeunterricht und Kampfgruppen der Arbeiterklasse. Honecker, "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!", akzeptierte die Freiheit der Andersdenkenden ebenso wenig wie andere Freiheitsrechte – dies stets verborgen hinter der Camouflage des jovialen Landesvaters, der alles nur gut meint.

Der sich aber einen Repressionsapparat hielt, dessen Mantra erst nach dem Fall der Mauer bekannt wurde: "Wir sind nicht davor gefeit, dass wir einmal einen Schuft unter uns haben. Wenn ich das schon jetzt wüsste, würde er ab morgen nicht mehr leben. Kurzer Prozess. Weil ich ein Humanist bin … Das ganze Geschwafel von wegen nicht Hinrichtung und nicht Todesurteil – alles Käse, Genossen. Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil." So Stasi-Chef Erich Mielke, 1982. In der DDR, die alles für das Wohl des Volkes leisten wollte und an deren Spitze nur selbst ernannte Humanisten standen.

Es ist so eine fantastische Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet am Abend dieses 2. Oktober die Parole der friedlichen Revolution entstand. Während Jan Hofer in der "Tagesschau" berichtete: "In Leipzig ist es, wie soeben gemeldet wird, zu einer neuen Massendemonstration gekommen", stellten sich friedliche Bürger der Polizei entgegen. Auf die Lautsprecheransage "Hier spricht die Volkspolizei" erscholl der Ruf "Wir sind das Volk".

AK

P.S. Und dann kommen noch Leute wie Gysi ... [bloed]
Man lebt ruhiger, wenn man nicht alles sagt, was man weiß, nicht alles glaubt, was man hört und über den Rest einfach nur lächelt.
andr.k
 
Beiträge: 4265
Bilder: 0
Registriert: 31. Oktober 2011, 21:56

Re: Als Honecker nicht mehr weinen wollte

Beitragvon Nostalgiker » 1. Oktober 2014, 13:20

Absolut Glaubhaft ....
Natürlich fielen einem damals 25jährigen in Sekundenbruchteilem die Vergleiche zu Hitler, Göring und Goebbels ein! Na klar doch, wurden entsprechende Zitate den Heranwachsenden in der DDR ab dem Krippenalter eingepeitscht.

Man kann zu dieser fatalen Äußerung von Erich stehen wie man will aber man sollte es nicht in Sinne des heutigem Mainstream; pöse, pöse DDR; übertreiben.

Thoth
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin

Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts zu verlieren hat. Janis Joplin

Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die immer bei anderen auf die Rechtschreibfehler hinweisen, eine Persönlichkeitsstörung haben und unzufrieden mit ihrem Leben sind. Netzfund
Benutzeravatar
Nostalgiker
 
Beiträge: 13702
Registriert: 28. August 2012, 12:36

Re: Als Honecker nicht mehr weinen wollte

Beitragvon Interessierter » 1. Oktober 2014, 13:53

Zitat " Thoth ":
Man kann zu dieser fatalen Äußerung von Erich stehen wie man will aber man sollte es nicht in Sinne des heutigem Mainstream; pöse, pöse DDR; übertreiben.


Im heutigen Mainstream ? Die SBZ und spätere DDR war schon immer, frühestens 1953 von der Mehrheit seiner Bürger nicht gewollt und konnte nur mit Zwang und Unterdrückung ihr Existenz sichern.

" Thoth " über Deine verzweifelte und argumentative Hilflosigkeit kann man höchstens noch

Bild
Interessierter
 

Re: Als Honecker nicht mehr weinen wollte

Beitragvon Nostalgiker » 1. Oktober 2014, 14:08

Im Gegensatz zu dir mein lieber "Interessierter" ist deine sogenannte Argumentation auch nicht mehr an argumentativer Hilflosigkeit oder "Verzweiflung" zu messen; sie ist einfach abartig und sowas von realitätsfern da jammern alle Katzen und Hunde auf der Erde.

Wann merkst du Witz von angeblichem Wissen mal das du nur entsetzlich platte Sche**** laberst?
Aber Selbsterkenntnis setzt ein Mindestmaß an Intelligenz voraus und das ist etwa was du garantiert bei die selbst nie vermisst hast .....


Und schön das Stöckchen aufnehmen und rumgreinen, was hat er mich wieder persönlich angegriffen und niedergemacht .....
Ich nehme zur Kenntnis, das ich einer Generation angehöre, deren Hoffnungen zusammengebrochen sind.
Aber damit sind diese Hoffnungen nicht erledigt. Stefan Hermlin

Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts zu verlieren hat. Janis Joplin

Psychologen haben herausgefunden, dass Menschen, die immer bei anderen auf die Rechtschreibfehler hinweisen, eine Persönlichkeitsstörung haben und unzufrieden mit ihrem Leben sind. Netzfund
Benutzeravatar
Nostalgiker
 
Beiträge: 13702
Registriert: 28. August 2012, 12:36

Re: Als Honecker nicht mehr weinen wollte

Beitragvon Nov65 » 1. Oktober 2014, 15:00

Was wer wann so dachte und jetzt von sich gibt, ist mir egal.
Als die Leute der Prager Botschaft per Zug durch die DDR gen Westen machten, gab es nicht nur E. Honecker, der ...keine Träne nachweinte.
Der Schuldirektor meiner Frau war der Meinung, dass die Jugend (die Ausreisenden) nicht unsere(die der DDR) war.
Honeckers Blödheit stand also nicht allein da. Sofort gab es Nachquatscher.
Gottlob hatten diese dann nichts mehr zu sagen.
Andreas
Nov65
 
Beiträge: 4338
Registriert: 1. März 2012, 14:09
Wohnort: Plau am See in M-V

Re: Als Honecker nicht mehr weinen wollte

Beitragvon Danny_1000 » 1. Oktober 2014, 15:03

Man muß ja nicht alles teilen, was der Schreiberling aus Springers Hause da niederschreibt:

Fakt ist aber: Dieser von ihm zitierte Artikel stand damals wirklich so in den DDR- Zeitungen (Ich habe noch ein solches Exemplar !).

Während bis dahin unzählige DDR- Bürger nur den Kopf schüttelten über die Sprachlosigkeit und Ignoranz der damaligen Parteiführung zu den sich anbahnenden Unruhen im Lande, trieb dieser Artikel vielen DDR- Bürgern die Zornesröte ins Gesicht. Das Maß war voll und der Glaube an Veränderungen in der DDR mit dieser Führung vollends erschöpft.

Gruß
Danny
Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben
dafür einsetzen, dass du es sagen darfst !
(Evelyn Beatrice Hall 1868; † nach 1939)
Benutzeravatar
Danny_1000
Grenztruppen
Grenztruppen
 
Beiträge: 2781
Registriert: 24. April 2010, 19:06


Zurück zu Triebkräfte der Systemkrise 1989

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast

cron