Am Abend des 30. Septembers 1989, verkündete der damalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher vom Balkon des Palais Lobkowicz, der Deutschen Botschaft Prag, seinen historischen Halbsatz: „Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute ihre Ausreise…“. Der Rest des Satzes, der die unkonditionierte Ausreise der ostdeutschen Botschaftsflüchtlinge in die Bundesrepublik bewilligte, ging im Jubel der fast 4000 DDR-Bürger im Innenhof der Botschaft unter.
Zitat:
Die Ausreisewelle schaukelt sich hochDie Zuflucht ostdeutscher Bürger in die Ständige Vertretung Bonns in Ost-Berlin sowie in die bundesdeutschen Botschaften in Warschau, Budapest und Prag begann bereits im Juni 1989. Konnten diese Flüchtlinge noch mehrheitlich zu einer Rückreise in die DDR bewegt werden, gestaltete sich die Situation im August und September des Jahres 1989 ungleich dramatischer. Mitte August befanden sich bereits mehr als 100 DDR-Bürger auf dem Botschaftsgelände in Prag. Während die Botschaft anfangs noch 20 bis 50 Neuzugänge pro Tag verzeichnete, so waren es später oft Hunderte, die täglich Zuflucht suchten. Einer der Hauptgründe für den plötzlichen Anstieg der Flüchtlingszahlen war die Furcht, dass die DDR noch vor den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag ihrer Gründung im Oktober die Grenze zur Tschechoslowakei schließen würde, das einzige Land in das ostdeutsche Bürger ohne Visum reisen konnten. Der Weg nach Prag wäre dann verschlossen gewesen.
Der nicht abreißende Flüchtlingsstrom zwang schließlich am 23. August 1989 das Auswärtige Amt dazu, die Deutsche Botschaft in Prag, in der mittlerweile knapp 4000 Menschen (!) unter abenteuerlichen Umständen lebten, wegen Überfüllung zu schließen. Die deutschen Botschaften in Warschau und Budapest wurden aus dem gleichen Grund geschlossen. Dies allerdings tat dem Zustrom der Flüchtenden nur wenig Abbruch. Zahllose DDR-Bürger versuchten in Prag verzweifelt über den Zaun in die Botschaft zu gelangen und wurden dabei nicht selten von den tschechoslowakischen Sicherheitskräften, die vermehrt außerhalb des Botschaftsgeländes an den Zäunen patrouillierten, gewaltsam daran gehindert. Dabei kam es nicht selten zu Tragödien: Familien wurden getrennt, als der Vater als letzter über den Zaun kletternd von der Polizei zurückgezogen wurde, oder auch zu Unfällen, als Flüchtlinge sich an den spitzen Zäunen schwerste Verletzungen zuzogen. Die Flüchtlinge in der Botschaft taten ihr bestes, um die Neuankömmlinge sicher über den Zaun zu bekommen: Oft wurden Sicherheitskräfte mit Steinen und gar Schuhen beworfen, um von Verhaftungsversuchen abzulassen. Zunehmend schien aber der Widerstand der Flüchtlinge sowie ‚Glasnost’ und ‚Perestroika’ als auch ausbleibende Direktiven aus Moskau, die tschechoslowakische Führung unter Husák und später Jakeš zutiefst zu verunsichern, denn mehrheitlich standen die Sicherheitskräfte dem Flüchtlingsstrom hilflos gegenüber.
Leben unter dramatischen Bedingungen – Solidarität der TschechenDie Lebensverhältnisse in der Prager Botschaft wurden mit dem enormen Flüchtlingszustrom immer dramatischer. Da die bundesdeutschen Behörden von der tschechoslowakischen Führung keine Erlaubnis bekam, Ausweichquartiere zu beziehen, wurden kurzerhand Repräsentationsräume der Botschaft mit Stockbetten in Notunterkünfte umgewandelt, die Konsularabteilung in ein Prager Hotel ausgelagert, Flüchtlinge richteten sich auf den Treppen und sogar im Heizungskeller ein und im Innenhof der Botschaft reihte sich Zelt an Zelt, die jeweils bis zu 60 Flüchtlinge beherbergen konnten.
Auch die Versorgung mit ausreichenden Lebensmitteln gestaltete sich, trotz Hilfe des Deutschen Roten Kreuzes, immer schwieriger. Zur Minderung der kritischen Lage trugen vor allem Prager Bürger bei, die Essen in die Botschaft schmuggelten und sich sogar in eigene Gefahr brachten, indem sie ostdeutsche Bürger bei sich aufnahmen, die es nicht in die Botschaft geschafft hatten. Die prägendste Erinnerung für die Tschechen an die Ereignisse rund um die Prager Botschaft im Herbst 1989 scheinen jedoch die zahllosen Trabenten und Wartburgs zu sein, die von den ostdeutschen Flüchtlingen über ganz Prag verteilt zurückgelassen wurden und nun auf neue Besitzer warteten. Hieran erinnert ein Bronzeabguss der Skulptur „Quo Vadis“ (ein Trabant auf Beinen) von David Černý, der seit 2001 im Garten der Deutschen Botschaft Prag steht. In der Botschaft selbst prägte langes Anstehen vor den wenigen sanitären Anlagen und den Feldküchen den Alltag der Flüchtlinge. Starke Regenfälle im September verwandelten den Garten der Botschaft in eine Schlammwüste und spülten Fäkalien aus den Chemietoiletten auf die Zeltplätze, was die hygienischen Verhältnisse dramatisch verschlechterte und die Gefahr von Seuchen erheblich vergrößerte.
Die Prager Stadtwerke, die unermüdlich tankwagenweise Wasser lieferten und Berge von Müll entsorgten, konnten der Situation schließlich nicht mehr Herr werden. Schlimmer noch als die hygienischen Bedingungen, die Kälte und die drängende Enge war jedoch die Angst und Ungewissheit der Flüchtlinge, die zum Teil mehr als einen Monat in diesem Provisorium ausharren mussten. Besonders der Argwohn vor Stasi-Spitzeln innerhalb der Botschaft und die Angst, wieder in die DDR abgeschoben zu werden, belastete die Atmosphäre, da man trotz offiziell zugesicherter Straffreiheit bei freiwilliger Rückkehr in die DDR willkürliche Sanktionen der Staatsmacht fürchtete. Wilde Stasi-Anschuldigungen kursierten im Lager und erzeugten zum Teil tiefes gegenseitiges Misstrauen, was nicht selten zu teils heftigen gewaltsamen Auseinandersetzungen führte. Die eingeschleusten Stasi-Agenten unter den Flüchtlingen fürchteten zunehmend ihre Enttarnung und Meuchelmord und enttarnten sich deshalb sogar freiwillig den bundesdeutschen Behörden, um aus der Botschaft entlassen zu werden. Die mangelhafte Informationslage und die unklare Aussicht, wann etwas passieren würde, ließ zunehmend Verzweiflung aufkommen, so dass die Botschaft auch psychologische Hilfestellung leisten musste.
Die Botschaftsflüchtlinge waren aber, trotz ihrer Verzweiflung, entschlossen, dem Regime die Stirn zu bieten. Verließen beim ersten Besuch des DDR-Rechtsanwalts Wolfgang Vogel am 12. September 1989 noch 280 Personen die Botschaft, um unter Garantie von Zugeständnissen in die DDR zurückzukehren, so schlug Vogel bei seinem zweiten Besuch am 26. September wachsender Unmut und offene Feindseligkeit seitens der Botschaftsflüchtlinge entgegen.
Diplomatische Lösung im HintergrundWährend die Situation in der deutschen Botschaft immer dramatischer wurde, verhandelten der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher und der damalige Kanzleramtschef Rudolf Seiters im Hintergrund über das Schicksal der Flüchtlinge. Das Regime der DDR stand dabei mit Blick auf die am 4. Oktober beginnenden Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR sowie durch die Grenzöffnung in Ungarn am 11. September und die dadurch verursachte Massenflucht erheblich unter Druck. Nicht zuletzt war es auch das internationale Echo auf die emotionalen und teilweise schockierenden Bilder, das eine diplomatische Einigung beschleunigte. Am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York, wenige Tage vor der Balkonrede Genschers, konnte in Verhandlungen mit dem tschechoslowakischen Außenminister, DDR-Außenamtschef Oskar Fischer sowie dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse schließlich Einigkeit über die Ausreise der ostdeutschen Bürger in die Bundesrepublik erzielt werden.
Diese musste aber – so Erich Honeckers Bedingung – über das Territorium der DDR erfolgen, was die Souveränität des Regimes bei der Ausreise der Flüchtlinge dokumentieren sollte. Um den gegenüber den Versprechungen des SED-Regimes sehr misstrauischen Bürgern persönlich die Sicherheit der garantierten, ungehinderten Ausreise zu geben, flogen Seiters und Genscher zusammen nach Prag, wo es am Abend des 30. September zu dem mittlerweile legendär gewordenen Auftritt auf dem Botschaftsbalkon kam.
Ende Zitat
http://www.kas.de/tschechien/de/publications/17607/Zu den Zügen steht weiter oben ein längerer Beitrag.
mfg
pentium