Zu den Merkwürdigkeiten des Herbstes 89 gehörte, daß die Nomenklatura der DDR nahezu widerstandslos die Position räumte Der größere Teil war offenbar wie gelähmt und unternahm gar nichts. Ein kleiner Teil versuchte hektisch, mit der Registrierkasse durchzubrennen: Eilig wurden allerlei Unternehmen und Stiftungen mit volkseigenen Geldern gegründet, Immobilien überschrieben, Nummernkonten eröffnet und gefüllt, Abfindungen gezahlt – die Kader suchten den schnellen Weg in den Kapitalismus, die politische Macht und die eigene Uberzeugung wurden fahrengelassen.
Ein anderer kleiner Teil kam von seinen Überzeugungen nicht so einfach los. Man versuchte Reformprojekte oder schloß sich der Partei des Demokratischen Sozialismus an: Wo nicht Nostalgie das Motiv war, mag es sogar etwas wie Befreiung gewesen sein, endlich vom Sozialismus träumen zu dürfen, ohne ständig mit der Nase in den realsozialistischen Unrat gestoßen zu werden.
Der geringe politische Widerstand überrascht um so mehr, als die herrschende Klasse keineswegs ein durch lange Machtausübung ausgehöhltes Ancien régime war. Die DDR-Nomenklatura hatte sich in einem rasanten Ausbildungs- und Rekrutierungsprozeß in den sechziger und siebziger Jahren formiert....
Alle Vorkehrungen waren getroffen, die „Machtfrage“ (wie die Redewendung hieß) schien ein für allemal entschieden, der Sozialismus auf deutschem Boden wähnte sich unerschütterlich. Dem „Klassenfeind“ waren doch alle Revisionsversuche mißglückt, er war auf den Weg der friedlichen Koexistenz gezwungen worden. So weit die Außendarstellung der Herrschenden.
Warum also haben die Herrschenden im Herbst 1989 nicht eine andere Strategie gewählt? Sie hatten ja Handlungsmacht. Und die DDR hatte von ihrer exponierten Lage nicht nur Nachteile.
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AZ