DDR-Grenzoffizier Ralf Kalich über die Nacht des Mauerfalls

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DDR-Grenzoffizier Ralf Kalich über die Nacht des Mauerfalls

Beitragvon augenzeuge » 22. September 2014, 16:38

http://de.wikipedia.org/wiki/Ralf_Kalich

Sie waren also wieder an der Grenze, als die Züge von Prag nach Hof über DDR-Hoheitsgebiet fuhren - hier ganz in der Nähe war die Strecke, die über Gutenfürst führte... Was war da los?
Wir sollten Personal abstellen, das sich auf die Brücken stellen sollte, um Menschen daran zu hindern, auf diese Züge aufzuspringen. Diesem Befehl sind wir schon nicht mehr nachgekommen. Wir steckten damals schon wieder in einer Umstrukturierung. Die Grenzkommandos sollten an die Kreise angepasst werden; das Grenzbezirkskommando saß in Gera.


Und wie war es nun in der Nacht, als die Grenze geöffnet wurde?
Ich war hier bei uns im Dorf im Rennsteigsaal bei der Einwohnerversammlung, wie das damals üblich war. Innenpolitisch hatten die großen Umwälzungen ja bereits begonnen. Auf dem Nachhauseweg den Berg hoch kommt mir der ABV, also der Abschnittsbevollmächtigte, entgegen, den ich schon seit Kinderzeiten kannte, und sagte zu mir: "Ralf, die machen die Grenze auf." Ich sagte: "Wie jetzt?" Er wiederholte: "Die machen die Grenze auf. Da war ne Pressekonferenz, und der Schabows­ki hat gesagt: Jeder darf jetzt reisen wie er will." Ich sagte: "Du haust mir jetzt die Tasche voll." Das klang so unglaubwürdig... Ich bin nach Hause, meine Frau hatte nicht ferngesehen, weil wir ja kleine Kinder hatten. Sie wusste also nichts.
Ich sagte: "Ich setz mich jetzt ins Auto und fahr rüber in die Kompanie und gucke, was los ist." In Burghügel hab ich den Unteroffizier vom Dienst getroffen und den Kompanietruppfahrer holen lassen, weil ich zur Führungsstelle an der A9 wollte. Ich hab mir aus der Waffenkammer eine Pistole geholt, dann ging es nach Hirschberg. Ich habe den Diensthabenden gefragt, aber der wusste auch nichts. Ich habe also in Blankenstein, in Hirschberg und im Grenzkreiskommando angerufen - und überall gab es die gleiche Auskunft: Wir wissen von nüscht. Keine Ahnung.

Dann fiel mir ein: Ich könnte ja den Grenzübergang anrufen, denn die Personenkontrolle und auch die Sicherungskompanie war eine selbstständige Einheit, die nicht in unserer Befehlsstruktur stand. Da hatte einer Dienst, den ich persönlich gut kannte. Ich fragte ihn: Was macht denn ihr? Da sagt der: Fernsehen gucken. Ich darauf: Wie jetzt? Habt ihr nichts Besseres zu tun? Da sagt er: Wir gucken jetzt, ob die wirklich in Berlin die Grenze aufmachen. Das werden die schon in der ARD oder im ZDF zeigen. Ich: Und was macht ihr dann? Er: Dann machen wir die Grenze auch auf.

Das heißt, Ihr Bekannter hat sich übers Westfernsehen informiert, ob er jetzt die Grenze aufmachen soll oder nicht?
Ja, so war das. Man kann sich das nicht vorstellen, aber es gab keine Befehle, keine Hinweise. Jeder hat nach seiner Gefühlslage entschieden.

Und was haben Sie gemacht?
Ich habe alle meine Grenzposten ans Grenzmeldenetz geholt und habe denen gesagt - das weiß ich noch wortwörtlich: Egal, was passiert, egal, wer kommt, ihr macht einfach nüscht. Und wenn einer kommt und will übern Zaun steigen, dann lasst ihn übern Zaun steigen. So war das damals...


http://www.thueringer-allgemeine.de/sta ... 1971576345

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