„Mutter, was heißt Stasi?“

Dokumente über die Zeit der Wende

„Mutter, was heißt Stasi?“

Beitragvon andr.k » 5. Mai 2014, 22:17

Eine Mecklenburgerin erinnert sich an die Zeit vor der Wende. Bis zum Herbst erscheinen Berichte, die die Zeit bis zum Mauerfall vor 25 Jahren dokumentieren.

Schwerin. Es war der 23. Oktober 1989, ein nasskalter und ungemütlicher Herbsttag. Ein Tag, der alles veränderte. Ich hatte Spätdienst und stand um 17 Uhr am Berliner Platz, hinter mir die Schule, an der ich als Erzieherin tätig war.

Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause, um meiner Tochter und den Enkeln einen Besuch abstatten. Doch was war das? Schon die zweite Bahn fuhr einfach durch, total überfüllt. Endlich hielt eine Straßenbahn und ich quetschte mich mit hinein. Die Fahrgäste unterhielten sich laut darüber, dass das Neue Forum zur Demo einlud. Das erklärte die Kreideschriften in der Altstadt: „Mecklenburger, wacht auf!“

Vielleicht wollten die Sachsen die Mecklenburger aufrütteln, auf die Straße zu gehen. In Leipzig und anderen Großstädten hatten längst Demonstrationen stattgefunden und in den Kirchen bei den Montagsgebeten holten sich die Menschen Trost und Kraft. Denn Mut brauchten die Menschen, die ihre Wut über die Zustände in der DDR herausschrien. Es gab anfangs noch viele Verhaftungen, doch es wurden immer mehr Menschen, die sich den Protesten anschlossen. Die Menschen wollten keine Entmündigung und Bespitzelung durch die Stasi mehr hinnehmen, sie hatten die „Mangelwirtschaft“ satt, wollten frei sein und strebten Reisefreiheit an.

Oh je, dachte ich, wohin gehen bloß deine Gedanken? Dann hielt endlich die Bahn am Leninplatz (heute Marienplatz). Die Menschenmenge strömte heraus Richtung Schlossstraße und Alter Garten — ich überlegte nicht lange und beschloss mitzugehen, einfach dabei sein! Am Alten Garten gestikulierte ein Mann und redete auf eine kleinere Gruppe von Leuten ein. Es war ein SED-Anhänger. „Weiter“, sagte eine Frau neben mir, hin zum Marstall. Dort standen unzählige Menschen dicht gedrängt. Und nun kamen noch so viele hinzu. Die Medien berichteten von 40 000.

Vorn gab es eine kleine Bühne, auf der Heinz Ziegner (Sekretär der SED-Bezirksleitung des Bezirks Schwerin) mit seinen Genossen stand. Wollten sie das Ruder noch einmal herumreißen? Aber das Neue Forum hatte alles im Griff. Nun ging mein Blick nach hinten in die Werderstraße. Dort standen bewaffnete Soldaten der NVA im Kreis. Die wollten doch nicht etwa auf die Masse schießen? Vor Schreck landete ich in einem der Schlaglöcher. Aber fallen konnte ich sowieso nicht.

Inzwischen tat sich vorn etwas. Es gab ein Mikrofon, in das jetzt die wütende Menge ihre Wut herausschrie. Verschiedene Anklagen wurden laut: „Gebt meinen schwerkranken Sohn zurück, der im Stasi-Gefängnis sitzt, weil er in die BRD fliehen wollte!“ oder „Wir haben die Mangelwirtschaft satt!“, „Ich kann nicht ausreisen, um meine Kinder und Enkelkinder in der BRD zu besuchen.“ Die Stimme ging zuletzt in Weinen über — jemand schrie: „Gebt endlich die schönen Strände der Ostsee frei, wir wollen auch dorthin, nicht nur die Parteibosse.“ Dann: „Wir wollen auch schöne Sachen im Exquisitladen einkaufen können, ohne dass Frau Ziegner alles weggekauft hatte.“ Das verneinten die Genossen vehement. In diesem Moment preschte eine Frau nach vorne und schrie: „Lüge, Herr Ziegner.

Ich war selbst Verkäuferin im Exquisitladen und musste abschließen, damit sich Ihre Frau bediente. Dann erst hatte die Bevölkerung Zutritt.“ Ich bestaunte den Mut der Menschen. Dann sah ich mich um.

Die bewaffneten Soldaten waren klammheimlich verschwunden. Inzwischen hörte man die Menge schreien: „Nimm deinen Hut.“

Dann fielen mir meine so früh verstorbenen Eltern ein. Der Vater hatte als Handwerksmeister unter dem System gelitten. Er weigerte sich, in die PGH einzutreten.

Bald danach formierte sich ein riesiger Demonstrationszug. Er führte in die Stadt und um den Pfaffenteich herum. Jeder hatte eine brennende Kerze in der Hand. Man hörte Sprechchöre: „Wir, wir sind das Volk!“, „Freiheit!“, „Pressefreiheit!“, „Stasi in die Produktion, Stasi in die Volkswirtschaft!“

Endlich kam ich hungrig und schmutzig bei meiner Tochter an, die am Pfaffenteich wohnte. Der kleine Enkel stand am Fenster und sagte: „Ein Laternenumzug.“ Nun hielt der kleine Knirps inne. Er hatte ein Wort von den Sprechchören aufgeschnappt. Aufgeregt fragte er: „Mutter, was heißt Stasi?“ Etwas Böses, war die kurze Antwort und ein strafender Blick traf mich.

Ich erklärte, dass das Geschehen heute in die Geschichte einging und nun doch wohl alles besser werden würde. Ein Schulterzucken war die Antwort. Die Situation war schwer einzuschätzen.

Die Ereignisse überschlugen sich, Ungarn hatte die Grenzen geöffnet. Die Botschaftsflüchtlinge konnten endlich ausreisen. Honecker und das Politbüro waren zurückgetreten.

Am 9. November 1989 gab es eine letzte Pressekonferenz in Berlin. Durch einen Versprecher noch beschleunigt, öffnete sich die Mauer. Wann würde sich nun für unsere Region die Mauer öffnen? Am nächsten Wochenende war es so weit. Am Sonnabend und Sonntag wurde ein Sonderzug nach Lübeck und Hamburg eingesetzt. Fahrkarten konnte man in Ostwährung bezahlen. Da gab es kein Halten mehr, wenn auch die Züge gnadenlos überfüllt waren. Im Lübecker Hauptbahnhof ging eine unübersehbare Menschenmenge die Holztreppe hoch, begleitet von den Ansagen der Lautsprecher.

Die DDR-Bürger wurden herzlich begrüßt und es gab wertvolle Hinweise für den Tag. Da gab es die Einladung zu einem Stadtbummel durch die Lübecker Altstadt (Kaffee und Kuchen gab es auf der Straße).

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Das Begrüßungsgeld bekam man im Rathaus, wo man auch eine Übernachtung bei Lübecker Familien bekommen konnte. Oder man entschied sich für einen Einkaufsbummel (die Geschäfte hatten ohnehin alle geöffnet). Dann kam noch eine Einladung zu einer Schifffahrt (natürlich kostenlos). Die Gastfreundschaft der Lübecker war einfach überwältigend.

Ursula Hohaus

Zur Person
„Ich hatte einfach das Bedürfnis, meine Erinnerungen aufzuschreiben“, sagt Ursula Hohaus. Das hat sie bereits mit ihren Erfahrungen über die Zeit im Dritten Reich getan. 1933 geboren und in Ludwigslust aufgewachsen, hat sie in der DDR als Horterzieherin gearbeitet.
Die Wende erlebte sie kurz vor ihrem Ruhestand in Schwerin. „Es waren so spannende Momente, die ich miterleben durfte, dass es schade wäre, wenn das in Vergessenheit geraten würde.“


Die Regionalzeitung im Wandel

• Probleme in der LPG Rolofshagen: Bis zu 550 Kilogramm Milch fehlen pro Kuh im Jahresschnitt. In Sachen Qualität gibt es ebenfalls Verbesserungsbedarf. Trotzdem wird eine Flugreise nach Moskau an zwei LPG-Mitglieder vergeben.

• Das Skatturnier der Gewerkschaft Unterricht und Erziehung hat die POS Wladimir Komarow aus Klütz gewonnen, der bisherige Spitzenreiter. Die POS Kurt Bürger aus Grevesmühlen, konnte beim letzten Turnier keine drei Spieler stellen und wurde deshalb disqualifiziert.

• Mit 100,3 Prozent haben die Mitarbeiterinnen des VEB Diamant in Grevesmühlen den Plan für 1988 erfüllt. Für 1989 plant der Betrieb die tägliche Produktion von 1004 Sakkos und 341 Westen.

• Wettkampf um die Goldene Fahrkarte beginnt, die GST-Kreisorganisation ruft Betriebe und Schulen auf, an dem Wettbewerb im Luftgewehrschießen teilzunehmen. 60 Auslandsreisen werden landesweit dafür ausgelobt.

• 25 Millionen Mark wurden 1988 in den Wohnungsbau im Kreis Grevesmühlen investiert. 8,5 Millionen Mark erhielten Bauherren als Kredite. 84,4 Millionen Mark wurde für den sozialen und kulturellen Bereich ausgegeben.

• 615 Kindergartenplätze gibt es in zehn Einrichtungen in Grevesmühlen.

• Die Handelsorganisation (HO) Grevesmühlen bereitet den ersten Verkaufsbasar im Gesellschaftshaus vor. Neben Modenschauen für Kinder- und Erwachsene sollen Gefrier- und Kühlschränke angeboten werden, wie der Leiter für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit der HO mitteilte.
Die Ausgaben der OZ aus dem Jahr 1989 sind eine Spende der Familie David aus Grevesmühlen, die die Zeitungen aufgehoben und sie nun dem Pressehaus zur Verfügung gestellt hat.

AK
Man lebt ruhiger, wenn man nicht alles sagt, was man weiß, nicht alles glaubt, was man hört und über den Rest einfach nur lächelt.
andr.k
 
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