Begehung des Bunkers auf der Dittersdorfer Höhe

Dokumente über die Zeit der Wende

Begehung des Bunkers auf der Dittersdorfer Höhe

Beitragvon pentium » 1. Juni 2017, 16:55

Begehung des Bunkers auf der Dittersdorfer Höhe
von Karlheinz Reimann
Damals am: 9. Dezember 1991

Organisiert durch das Neue Forum versammeln sich um 9 Uhr ca. 100 Bürger vorwiegend aus Dittersdorf, Kleinolbersdorf, Altenhain und Einsiedel vor dem Gelände des Bunkers auf der Dittersdorfer Höhe. Nach zäher Verhandlung, vor allem durch Joachim Heinik, der die Bürgeraktion leitet, beendet Oberleutnant der VP Jürgen Schreiter in eigener Entscheidung die destruktive Diskussion und öffnet das Tor zum Bunkergelände für alle Teilnehmer. Zunächst werden die Besucher in den Speisesaal in einer Baracke geleitet. Der junge Staatsanwalt Börner und die „Freie Presse“ sind anwesend. Später werden alle Besucher in kleineren Gruppen durch den gesamten Bunker geführt. Auch die zur Tarnung vorhandenen Zugangsbauten und Außenanlagen wie Hundezwinger und Trinkwasserbrunnen können besichtigt werden.

Durch die Begehung und später aus den Unterlagen der BStU weiß man heute sehr viel mehr: Bei diesem Bunker „Objekt Tanne“ handelt es sich um die Ausweichführungsstelle (AFüSt) des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Generalleutnant Siegfried Gehlert. Der Bunker war nach dem Ausbau der WTsch-Technik (hochfrequenzverschlüsselte Telefonverbindungen) des Warschauer Paktes am Tag vorher von der Stasi an die Volkspolizei übergeben worden. Der zwischen 1974 und 1979 erbaute Bunker Typ 1/15/V2 hat eine Fläche von 1.286m2 , ein Volumen von 12.000m3 und konnte zum größten Teil hermetisiert werden. Seine Sohle liegt 4m tief in der Erde. Er hat aber nur eine Erdüberdeckung von 1,80m, weshalb er später zu einem Teil noch mit Betonplatten überdeckt wurde.

Nachdem eine schwere Betonplatte zur Seite gefahren wurde, gibt eine Treppe den Zugang frei zum Bunker, zuerst durch eine Schleuse mit Duschen zur Dekontaminierung von Personen und Gegenständen. Im Falle militärischer, auch atomarer Einwirkungen auf Karl-Marx-Stadt konnten hier 130 Mitarbeiter, darunter 4 Mitarbeiter des KGB, mit Vorräten für 14 Tage ausharren. Zellen mit gestockten Betten, Sanitäreinrichtungen, ein Küchentrakt, Lebensmittellager, Einrichtungen zur medizinischen Versorgung, Arbeitsplätze und viel Technik waren vorhanden. 6000 Liter Trinkwasser und 5000 Liter Diesel für zwei große und vier kleinere Notstromaggregate konnten eingelagert werden. Geheime Kommunikationsverbindungen (WTsch-Technik) zu den Zentralen von MfS, MdI, NVA, SED in der ganzen DDR und zum KGB waren installiert. Für den Fall, dass die Kabelverbindungen zerstört sein sollten, war eine in 3km Entfernung abgesetzte Funksendestelle (Grenzwelle 3 bis 6 MHz, 1000W) mit Antennen in der Erde sowie maskiert an einem Lichtmast am Rande der Wohnbebauung von Gornau vorhanden. Bei Anpeilung der Sendestelle sollte ein möglicher Beschuss dorthin gelenkt werden. Für die Hermetisierung des Bunkers waren Atemluftvorräte in Druckluftflaschen eingelagert und zur Luftregenerierung waren Ausrüstungen aus sowjetischer U-Boot-Technik installiert. Kiesdruckwellendämpfer sollten die Luftdruckwelle bei einer atomaren Explosion mildern. Bei totalem Stromausfall konnten mehrere Belüftungsanlagen wie mit einem Fahrradergometer betrieben werden. Mehrere Schächte mit Steigeisen für einen Notausstieg führten ins Frei.

Nach der Besichtigung des Bunkers kehren viele Teilnehmer mit Betroffenheit in den Speisesaal zurück und diskutieren das Gesehene. Betroffen über die offensichtliche Entschlossenheit, mit der die SED-Führung im Zuge einer Konfrontationspolitik den „Verteidigungszustand“ einkalkuliert und sich real darauf vorbereitet hatte. Während im Kriegsfall die im Bunker befindlichen Personen einen (sehr!) begrenzten Schutz hatten, war für die Bevölkerung keinerlei Schutz vorgesehen. Eine fundamentale Lehre aus dem Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion führte zur sowjetischen Militärdoktrin, einen Aggressor künftig „auf seinem eigenen Territorium zu zerschlagen“. Beim Einsatz atomarer Waffen müsste man dem tatsächlichen oder vermeintlichen Aggressor zuvorkommen. Es war deshalb dringend geboten, die Gefahr eines militärischen Konfliktes in Deutschland zu entschärfen und letztlich zu beseitigen. Zu diesem Aspekt wird die Bedeutung der Bürgerbewegung in der DDR, durch die das militärische Konfliktpotential auf friedliche Weise abgebaut worden ist und letztlich zur Wiedervereinigung Deutschlands geführt hat, hinsichtlich ihrer Tragweite auch für die Menschen in der BRD selten angemessen gewürdigt.

Zur Vorlage von Bauunterlegen des Bunkers und weitere Befragungen wird der Stasi-Objektverantwortliche für den Bunker, Oberstleutnant Kratzer, geholt und kommt, merkbar alkoholisiert, in ein schweres Kreuzverhör. Es ist bizarr: Seit 1983 hat er alle Niederschriften zum Bunker unterzeichnet. Er hat die Bekämpfung mit der Waffe von auf das Bunkergelände eingedrungenen Feinden trainieren lassen – und jetzt ist der Speisesaal voller vermeintlicher Feinde, ganz ohne Waffen und diktiert ihm Fragen. Weil er von nichts weiß, sich strikt an seine Schweigeverpflichtung gebunden hält, sind einige Besucher sehr aufgebracht, die Situation droht zu eskalieren. Karlheinz Reimann schätzt ein, dass mit großer Wahrscheinlichkeit alle Teile des Bunkers begangen werden konnten und weist auf den friedlichen Charakter der Aktion hin, um die aggressive Stimmung zu beruhigen. (Peter Kratzer nennt ihn 1990 bei der Auflösung der Stasi auf dem Kassberg „seinen Retter von der Dittersdorfer Höhe“). Die „Freie Presse“ druckt eine Reportage über die Bunkerbegehung.

http://www.die-stadt-bin-ich.de/begehun ... fer-hoehe/

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Re: Begehung des Bunkers auf der Dittersdorfer Höhe

Beitragvon Interessierter » 2. Juni 2017, 06:45

Durch die Begehung und später aus den Unterlagen der BStU weiß man heute sehr viel mehr: Bei diesem Bunker „Objekt Tanne“ handelt es sich um die Ausweichführungsstelle (AFüSt) des Leiters der Bezirksverwaltung der Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt, Generalleutnant Siegfried Gehlert. Der Bunker war nach dem Ausbau der WTsch-Technik (hochfrequenzverschlüsselte Telefonverbindungen) des Warschauer Paktes am Tag vorher von der Stasi an die Volkspolizei übergeben worden.


Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, wurde da nicht behauptet, dass die Stasi keine Bunker gehabt hätte?


Zitat Beethoven:
Das Ministerium für Staatssicherheit hatte keine Bunkersonderbauten, möchte ich mal ganz kühn behaupten.


[grin]
Interessierter
 


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