Der lange Abschied von der DDR, Weißenfels 1990 - 1995

Dokumente über die Zeit der Wende

Der lange Abschied von der DDR, Weißenfels 1990 - 1995

Beitragvon augenzeuge » 14. September 2025, 08:43

Als „Der lange Abschied von der DDR“ nach seiner Fertigstellung vor 20 Jahren erstmals in der ARD gezeigt wurde, gab es heftige Diskussionen in der Stadt, die Mitteldeutsche Zeitung hat seinerzeit sogar ein Forum dazu veranstaltet. „Der Film hat die Wirklichkeit mit unheimlicher Akribie gezeigt“, sagte der Nachwende-Bürgermeister Manfred Rauner, ein Protagonist der Dokumentation.

Heute, im Abstand von zwei Jahrzehnten, ist der Film noch wichtiger als damals. Das liegt an den zuckrigen Erinnerungen, die inzwischen die Runde machen und das Bild, das die ostdeutsche Provinz nach dem Zusammenbruch der DDR bot, überformen. Was aber viel wichtiger ist als die Bilder einstürzender Altbauten, neben die man als Lokalpolitiker oder Ortschronist heute nicht ohne Stolz die hübsch sanierten Innenstadt-Ansichten legen kann: Lehmstedts Film erzählt nicht über die Menschen, die er nach 1990 in Weißenfels getroffen hat - er lässt sie erzählen. Minutenlang. Weißenfelser vor allem, aber auch Glücksritter aus dem Westen, die ihre Pläne ausbreiten und über den Denkmalschutz räsonieren, der sie bremst.

Fast zwei Stunden läuft der Film, ohne dass man auch nur einmal ungeduldig oder gelangweilt auf die Uhr sehen müsste. Hier tritt einem die DDR - oder das, was von ihr übrig blieb, ganz ungeschminkt und oftmals regelrecht zu Tränen rührend entgegen. Da ist ein Firmeninhaber, der aufgeben muss. Ein eingeführtes Kurzwarengeschäft hat er geleitet, über Jahrzehnte in Familienbesitz. Aber nun ist Schluss mit Knöpfen, Kunstperlen, Reißverschlüssen und Borten. Damit ist kein Geld mehr zu verdienen, die Verkäuferinnen werden gehen müssen, das Haus wird verkauft. Eine lange Einstellung zeigt den Inhaber des Ladens, einen älteren Mann in schlecht sitzendem Anzug mit Krawatte an seinem Schreibtisch. Irgendwann erinnert er sich der halb geleerten Weinbrandflasche und nimmt sie vom Tisch, die Kamera ist immer dabei.

Wie der Mann da hockt und mit den Tränen kämpft, erzählt mehr über die Härten des Umbruchs in eine neue Zeit, die sich doch fast alle gewünscht und viele erkämpft haben, als jede Sonntagsrede, die demnächst, zum 3. Oktober, wieder von den weltlichen Kanzeln der Republik gehalten werden.

Auch das Porträt einer jungen Frau aus der Neonazi-Szene bleibt haften: Wie sie ihren Hass auf Ausländer vorträgt und Gewalttaten ihrer Freunde damit zu legitimieren sucht, ist erschreckend. Heute muss die Frau Anfang der Vierzig sein und hat vielleicht schon erwachsene Kinder. Wie werden sie aufgewachsen sein, in welchem Geist? Und was werden sie wohl von den Flüchtlingen halten, die in unser Land kommen? Auch daran muss man denken beim Ansehen dieses großartigen Films. (mz)




AZ
"Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
"Es ist manchmal gefährlich, Recht zu haben, wenn die Regierung Unrecht hat. (Voltaire)"
Benutzeravatar
augenzeuge
Flucht und Ausreise
Flucht und Ausreise
 
Beiträge: 94988
Bilder: 20
Registriert: 22. April 2010, 07:29
Wohnort: Nordrhein-Westfalen

Zurück zu Dokumente

Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 1 Gast