Der früheste Beleg für den politischen Willen der SED-Führung, auf DDR-Flüchtlinge schießen zu lassen, findet sich im Protokoll der Politbüro-Sitzung vom 22. August 1961. Nach dem Mauerbau hatte West-Berlins Regierender Bürgermeister Willy Brandt an die DDR-Grenzsoldaten appelliert "Schießt nicht auf die eigenen Landsleute!"
SED-Generalsekretär Walter Ulbricht stellte dazu laut Protokoll fest: "Manche sagen, Deutsche können doch nicht auf Deutsche schießen. Auf die Deutschen, die den deutschen Imperialismus vertreten, werden wir schießen. Wer provoziert, auf den wird geschossen!"Bald darauf erging der "Befehl über die Gewährleistung der Sicherheit an der Westgrenze der DDR vom 14. September 1961". Er legte fest: "Auf Deserteure ist das Feuer sofort zu eröffnen, d. h. ohne Anruf und Warnschuss.
Auf Flüchtlinge, die sich der Festnahme durch Flucht in die Bundesrepublik zu entziehen versuchen, dürfen nach einem Warnschuss gezielte Schüsse abgegeben werden.". Unter Vorsitz von Erich Honecker trafen sich daher am 20. September 1961 erneut die Mitglieder des Zentralen Stabes, der die Abriegelung West-Berlins vorbereitet hatte. Ihr Beschluss vermerkte unter Punkt 8:
"Gegen Verräter und Grenzverletzer ist die Schusswaffe anzuwenden. Es sind solche Maßnahmen zu treffen, dass Verbrecher in der 100-Meter-Sperrzone gestellt werden können. Beobachtungs- und Schussfeld ist in der Sperrzone zu schaffen."Am 6.10.1961 befahlm DDR - Verteidigungsminister Hoffmann:
"Die Anwendung der Schusswaffe darf nur in Richtung Staatsgebiet der DDR oder parallel zur Staatsgrenze erfolgen" – also nicht in Richtung Bundesrepublik oder West-Berlin." Eindeutig, aber nur mündlich, befahl in den 60er-Jahren – der genaue Zeitpunkt ist unbekannt – der damalige Stadtkommandant von Ost-Berlin, General Helmuth Poppe seinen Offizieren:
"Kein Grenzverletzer darf lebend West-Berlin erreichen."1974 bekräftigte Erich Honecker den seit 1961 geltenden Schießbefehl:
"Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden, und es sind die Genossen, die die Schusswaffe erfolgreich angewandt haben, zu belobigen."Im April 1989 hob Erich Honecker insgeheim die Order zum Schießen auf:
"Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schusswaffe anzuwenden."Wie geflüchtete Grenzer berichten, wurden diese Weisungen in den Grenzregimentern umgesetzt. Fast 2800 Mitglieder der "bewaffneten Organe" nutzten bis 1989 ihren Dienst zur Flucht.
Es gibt Dutzende derartiger Aussagen. Im Juni 1963 berichtete beispielsweise ein geflohener Grenzsoldat, bei der "Vergatterung", der mündlichen Befehlsausgabe vor Dienstbeginn, sei stets der Satz gefallen: "Wer nicht schießt, ist ein Verräter."Fazit:Den "einen" Schießbefehl, der vom Bau der Mauer am 13. August 1961 bis zu ihrem Sturz am 9. November 1989 Todesschüsse an Flüchtlingen angeordnet hätte, gab es nie; man wird kein solches Schriftstück finden können.
Vielmehr belegen Dutzende Dokumente der SED, der NVA und der Grenztruppen, dass die DDR bewusst und vorsätzlich an ihren Grenzen zum Westen töten ließ. Außerdem gibt es Hunderte entsprechende Aussagen von Grenzsoldaten – ebenso jenen, die vor 1989 geflüchtet sind, wie solchen, die erst nach der friedlichen Revolution berichten konnten.
http://www.welt.de/politik/article11056 ... aeter.html