Der Todeswall - Für viele war die Mauer das Ende ihres LebensFür die Machthaber war sie ein „antifaschistischer Schutzwall“. In Wirklichkeit war die Mauer eine tödliche Grenze. Die DDR wurde zum Gefängnis und der Westteil Berlins zur Insel. Manche meinen, die Mauer sei der Anfang vom Ende der DDR gewesen. Für viele war sie das Ende ihrer Träume – und ihres Lebens. Hans-Hermann Hertle
Am Ende war den Machthabern die Wirkung ihres menschenverachtenden Grenzregimes wohl selbst nicht mehr geheuer. „Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schusswaffe anzuwenden“, ließ SED-Generalsekretär Erich Honecker seinen verblüfften Militärs Anfang April 1989 verbindlich ausrichten.
Am 3. April wurden daraufhin die DDR-Grenztruppen angewiesen, „die Schusswaffe ... zur Verhinderung von Grenzdurchbrüchen“ nicht länger einzusetzen. Klammheimlich war der Schießbefehl, eine Existenzbedingung der DDR, aufgehoben; sieben Monate später fiel die Mauer.Nach 1990, in den Strafverfahren um die Gewalttaten an der Grenze, bestritten die Mitglieder der ehemaligen politischen und militärischen Führung der DDR vehement die Existenz eines Schießbefehls. Formaljuristisch betrachtet musste ihnen Recht gegeben werden, denn die schriftlichen Anordnungen und Weisungen der 1960er und 1970er Jahre und auch das DDR-Grenzgesetz von 1982 begründeten hinsichtlich der Schusswaffenanwendung lediglich einen „Erlaubnistatbestand“, nicht jedoch die Verpflichtung zum Todesschuss.
Doch wie das einleitende Zitat von Honecker zeigt, waren Recht und Gesetz in der DDR der politischen Opportunität unterworfen. Politische Strafgesetze, die Fluchtversuche unter bestimmten Bedingungen als Verbrechen definierten, eine politische Ideologie, die die jungen Soldaten zum bedingungslosen Hass auf den Feind erzog, sowie Belobigungen für Todesschützen rückten die „Erlaubnis“ nahe an die Pflicht. Politische Vorgaben und mündliche Befehle besorgten den Rest.
Waren die Mitglieder der SED-Führung unter sich, schreckten sie durchaus nicht davor zurück, den Schießbefehl ganz ungeschminkt beim Namen zu nennen. „Der Schießbefehl wird natürlich nicht aufgehoben“, tönte etwa Stasi-Minister Erich Mielke im engsten Kreise bei der Vorbereitung von Sicherheitsmaßnahmen für die Weltjugendfestspiele 1973 in Ost-Berlin.Bereits am 22. August 1961, wenige Tage nach dem Mauerbau, hatte das SED-Politbüro den ZK-Sekretär für Propaganda, Albert Norden, beauftragt, bei der Nationalen Volksarmee und der Volkspolizei zu veranlassen, dass von Gruppen, Zügen und Kompanien schriftliche Erklärungen darüber abgegeben würden, „dass jeder, der die Gesetze unserer DDR verletzt – auch wenn erforderlich – durch Anwendung der Waffe zur Ordnung gerufen wird.“ Roland Hoff war einer der Ersten, die dem neuen Grenzregime zum Opfer fielen. „Nicht schießen! Bitte nicht schießen!“, hatte der 27-Jährige den Grenzpolizisten am Nachmittag des 29. August 1961 noch zugerufen, als bereits die ersten Schüsse auf ihn abgefeuert wurden. Zwischen Teltow und Berlin-Steglitz hatte er versucht, durch den Teltowkanal schwimmend das West-Berliner Ufer zu erreichen. Doch sein Flehen blieb unerhört: Die Posten nahmen ihn so lange unter Beschuss, bis er tödlich getroffen im Teltowkanal versank.
„Gegen Verräter und Grenzverletzer (ist) die Schusswaffe anzuwenden“, bestärkte Erich Honecker als für den Mauerbau zuständiges SED-Politbüromitglied am 20. September 1961 die Todesschützen. In einem Befehl des DDR-Verteidigungsministers vom Oktober 1961 hieß es, dass die Schusswaffe einzusetzen sei „zur Festnahme von Personen, die sich den Anordnungen der Grenzposten nicht fügen, indem sie auf Anruf ,Halt – Stehenbleiben – Grenzposten!’ oder nach Abgabe eines Warnschusses nicht stehenbleiben, sondern offensichtlich versuchen, die Staatsgrenze der DDR zu verletzen und keine andere Möglichkeit zur Festnahme besteht.“ In späteren Vorschriften wurde der Schusswaffeneinsatz durch den Hinweis ergänzt, dass „der Gebrauch der Schusswaffe (...) die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen (ist). Er ist nur dann zulässig, wenn alle anderen Maßnahmen erfolglos bleiben oder dann, wenn es auf Grund der Lage nicht möglich ist, andere Maßnahmen zu treffen.“
Anruf? Warnschuss? Äußerste Maßnahme? „Wer unsere Grenze nicht respektiert, der bekommt die Kugel!“, verlautbarte der Verteidigungsminister kurz und knapp. „Grenzverletzer sind festzunehmen oder zu vernichten!“, lautete entsprechend der mündliche Befehl, mit dem die DDR-Grenzsoldaten bis in die 1980er Jahre tagtäglich in den Todesstreifen geschickt wurden.
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http://www.tagesspiegel.de/politik/der- ... 71812.htmlHans-Hermann Hertle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam. Gemeinsam mit Maria Nooke, Udo Baron, Christine Brecht, Martin Ahrends und Lydia Dollmann verfasste er den vom ZZF und der Stiftung Berliner Mauer herausgegebenen Band „Die Todesopfer an der Berliner Mauer. Ein biographisches Handbuch“, der im Ch. Links Verlag erschien.