von Volker Zottmann » 18. Oktober 2014, 21:18
Ich habe einen interessanten Artikel gefunden:
Dorfrepublik Rüterberg - Elbe
15. Oktober um 15:40 ·
Das Industriedorf Rüterberg wurde zum Sterben verurteilt.
Was damals in den Junitagen 1952 den Menschen an der Grenze angetan wurde, war unbegreiflich. Staats- und Bürgerrechte wurden gebrochen. Der Grundstein für den Unrechtsstaat war gelegt. Zuerst kam die Vertreibung unliebsamer Menschen. In ihren Akten verzeichneten Unmenschen diese Taten als „Aktion Ungeziefer". Furchtbar und abscheulich! Wer waren die Verstoßenen aus unserem Dorf? Es waren außergewöhnlich tüchtige, aber auch ganz normale Mitbürger. Beispiel: Eine Frau, die ihren Mann im Kriege verloren hatte, deren Haus dann jahrelang von der russischen Besatzungsmacht besetzt war und die sich dann endlich wieder in ihrem verwohnten Haus eingelebt hatte. Nachdem ihr nun auch noch die Heimat genommen wurde, war sie einsam und seelisch zerstört. Eine Bauernfamilie, seit Generationen in Wendisch-Wehningen-Rüterberg beheimatet, mußte mit 5 Kindern von Haus und Hof. Weitere Familien, die ein normales Leben in unserem Dorf geführt hatten. Mit drei weiteren Ausweisungen wurden nicht nur tüchtige und hilfsbereite Menschen ins Ungewissen geschickt; es wurde gleichzeitig das kleine Industriedorf Rüterberg zum Sterben verurteilt. Zwei Ziegelei- und ein Sägereibesitzer wurden enteignet und mit ihren Familien von ihren Betrieben fortgejagt. Ihr Verbrechen war ihr Besitz! Hätten die Dörfler nach Untaten dieser Besitzer gesucht, sie hätten niemals welche gefunden. Nach vierzig Jahren können sich alte Menschen zwar noch erinnern, aber viele Einzelheiten sind nicht mehr ins Gedächtnis zurückzurufen. Wie gut, daß vom 1. Juli 1945 noch so viel Ehrlichkeit in den Akten aufgestöbert werden kann. Die Arbeiter von damals, in der Stunde Null, zeigten den großen Mut für die Gerechtigkeit, und dies nicht nur mit Herz und Hand, sondern auch mit weitblickendem Verstand. Die erste Gemeindekommission vom 15. September 1945 sorgte dafür, daß der Besitzer der Klinkerfabrik nicht falschen Anschuldigungen zum Opfer fiel. Er konnte nach 1945 mit den vorhanden gebliebenen Produktionsmitteln viel für die notleidende Bevölkerung tun. Vielseitig sorgte er, gemeinsam mit seinen Arbeitern, für eine umfangreiche Versorgung mit aus bestem Klinkerton gebrannten Gebrauchswaren. Die weite Umgebung wurde mit dem begehrten Hausrat, aber auch mit Klinkersteinen versorgt. Dömitz und viele Gemein¬den beneideten uns um die Fabriken in Rüterberg und Broda. In der Sägerei wurden nicht nur Bretter geschnitten.
In einem Schreiben vom 4. 9. 1945 ist zu lesen: „ Die Firma Weber hat die Vorarbeiten für 400 Bettstellen soweit vorangetrieben, daß mi der Fertigstellung begonnen werden kann. Weber wartet nur noch auf die Bestätigung vom Landratamt"
Bevor im Juni 1952 diese Menschen aus der Dorfgemeinschaft herausgerissen wurden, ist von der Gemeinde an die Landeszeitung geschrieben worden, u. a.:
„der Ziegeleibesitze aus Rüterberg hat sein Schweinesoll für das l. Halbjahr erfüllt, und weitere Schweine wird er demnächst abliefern."
In diesem Protestschreiben vom 24. 3. 1952, wenige Monate vor der gewaltsamen Vertreibung, wird bewußt die Leistung dieses Dorfmitgliedes herausgestellt. Unser Dorf war leer und arm geworden. Die Sägerei überlebte nicht mehr lange. Das für die damalige Zeit reichhaltige Lager an Holzbaumaterialien und Brettern war bald verbraucht. Das Sägegatter - immer wieder mit Energie in Betrieb gehalten - stand bald still. In den zwanziger Jahren hatte das Ehepaar Weber begonnen, sich den Sägereibetrieb aufzubauen. Die älteren Einwohner erinnern sich noch, wie am frühen Morgen - tagaus, tagein - die Frau des Zimmermanns durch das Dorf eilte, um den Dampfkessel zu heizen. Mit unermüdlichem Fleiß begann dieses Lebenswerk, das bald für 15 Arbeiter zur Lebensgrundlage wurde. Jetzt war alles gewesen. Die Ziegelei wurde schlecht und recht weiter betrieben, bis auch sie Opfer der Grenze wurde.
Es mußte in Rüterberg endlich wieder einmal etwas los sein
Nach und nach erfuhren die Dorfbewohner, wo ihre aus unserem Gemeinwesen vertriebenen Mitmenschen hingeschleppt wurden. Die meisten nahmen an ihrem Schicksal teil. Ein ständiger Kontakt sorgte dafür, daß die Verbindung mit der Heimat nicht abbrach und manche Not gelindert werden konnte. Nach einem Jahr waren diese Bindungen eher noch stärker als schwächer geworden. Sehr zum Ärger und zur Wut der unmenschlichen Machthaber und Verantwortlichen für die Vertreibung. In Folge der Deportation hatten „Passierschein¬zwang" und „Aufenthaltsgenehmigungen" unser Dorf leer und einsam gemacht. Noch konnten wir uns in der Gastwirtschaft an der Elbe treffen. Wir, die Jugend von damals, das war in erster Linie die Freiwillige Feuerwehr. Sie war nicht nur der Helfer gegen Brandgefahr, sondern noch mehr die Quelle eines frohen und lebensbejahenden Beisammenseins. Der Nachholbedarf an Lebensfreude war auch nach acht Jahren Kriegsende immer noch sehr groß. Außerdem forderte uns der SED-Staat heraus. Während unserer Versammlungen konnten wir uns unter dem Anschein von „Dienstgesprächen" mit Witz und guter Laune abreagieren. Noch heute klingt mir dabei der damalige Slogan „Deutsche an einen Tisch" in den Ohren. Wir rückten dann auch wirklich die Tische zusammen und fühlten uns wohl, aber auch stark in dieser Gemeinschaft. Die Angst vor einer nächsten Ausweisung war nicht mehr so groß. Außerdem hatten die SED-Oberen hoch und heilig versichert, diese „Aktion" sei einmalig gewesen und werde sich nicht wiederholen. So wurde eine Runde nach der anderen ausgegeben. Das Bier und der Köm waren billig und schlecht, schmeckten nach der dritten Runde um so besser. Nach der verordneten „politischen Diskussion", die immer sehr kurz war, gingen wir schnell zum angenehmeren Teil über. Es mußte in Rüterberg endlich mal wieder etwas los sein. Ein Feuerwehr¬ball stand schnell auf der Tagesordnung. Aber wie und wo sollte das Vergnügen durchgeführt werden? Hier in Rüterberg? Schnell waren wir uns einig. Wenn wir feiern, dann feiern wir alle zusammen. „Alle, das waren in erster Linie Kamera¬den, Nachbarn und Freundschaften im Dorf, Dömitz und den Nachbargemeinden. Als dann jemand sagte, wenn wir außerhalb feiern, dann am besten außerhalb des 5-km-Sperrgebietes. Wir könnten unsere ausgewiesenen Kameraden und alle anderen einladen. Jeder stimmte sofort zu. Mancher brachte die Einladung persönlich zu den Ausgewiesenen. Kurze Zeit nach dieser Löschpartie war an Tafeln und Bäumen in den Nachbardörfern zu lesen: „Wunschtanzabend der Freiwilligen Feuerwehr Rüterberg am Sonnabend, den 7. März 1953 in Heiddorf bei Gastwirt Kühne." Es sollte kein gewöhnlicher Tanzabend werden. Es sollte ein Wiedersehensfest aller Rüterberger sein; ein Fest, das wir außerhalb unseres Dorfes feiern mußten, um Zusammensein zu können. Die Vorbereitungen liefen auf Hoch¬touren. Kleine Theaterszenen wurden eingeübt. Alle Dörfler beteiligten sich. Die Vorfreude war groß. Für die von uns gewaltsam Getrennten war außerhalb des Sperrgebietes für Nachtquartier nach dem Fest gesorgt worden. Ein harter Schlag war es für uns, als wie am Ende der Vorbereitungen hörten und lasen:
„ Das Herz des großen Stalin hat am 5. März um 21. SO Uhr aufgehört zu schlagen."
Das war für uns ein großes Ärgernis! Nicht etwa deshalb, weil wir uns in tiefem Schmerz mit den Werktätigen der Sowjetunion verbunden fühlten, dazu hatten wir keinen Grund. Nicht einmal die Genossen aus unserem Dorf gaben sich Mühe, traurige Gesichter zu zeigen. Die Rüterberger Feuerwehr durfte am 7. März nicht feiern und fröhlich sein, weil zwei Tage vorher, am 5. März, Josef Wissarionowitsch Stalin nach schwerer Krankheit verschieden war. Einhellig war unsere Meinung:
„Konnte er denn nicht wenigstens noch acht Tage länger leben?"
Ob wir wollten oder nicht, unser Fest mußte um acht Tage, auf Sonnabend, den 14. März 1953, verschoben werden. Schnelligkeit und Einsatzbereitschaft, gefragt nicht nur bei der Feuerwehr, sorgten dafür, daß auch unsere Mitbürger von außerhalb zum verschobenen Termin unter uns sein konnten. So wie wir es uns gewünscht hatten, wurde diese erste große Feier nach der Trennung von unseren Mitbürgern, ein Tag der Freude und Zusammengehörigkeit. Die Ausgewiesenen wußten, sie gehörten nach wie vor zu uns!
.Quelle:"Die Dorfrepublik"von Hans Rasenberger
Gruß Volker