Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Die innerdeutsche Grenze. Alles was in das Thema Grenze, Grenztruppen, BGS, Zoll, Fluchten, Teilung, Leben im Sperrgebiet, usw.

Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon Interessierter » 14. Juli 2018, 12:53

Abschied
von Wernhild Bär

Die Zeit anhalten

Die Finsternis der Nacht und eine erdrückende Stille um mich herum bedrohen mich. Ich wälze mich im Bett hin und her. Das Schnarchen von Jürgen, meinem Mann, unterbricht kurz die Stille. Erinnerungen – Bilder ziehen an mir ( der Autorin ) vorbei.

Fünfzehnter Mai Neunzehnhundertfünfundachtzig. Drei Monate ist es erst her als unsere ältere Tochter G. (21 J.) zu ihrem Mann in die BRD übersiedelte. Quälende Gedanken plagen mich. Wenn diese Nacht vorüber ist wird unsere jüngere Tochter den gleichen Weg gehen. M. (18 J.) – selbst fast noch ein Kind, mit ihrer Tochter – unserer Enkeltochter N. Mitternacht ist längst vorbei, ich kann immer noch nicht schlafen und wünsche mir, dass diese Nacht nie zu Ende geht. Wünsche ich mir wirklich, dass es ewig Nacht bleibt, dass die quälenden Gefühle nie ein Ende nehmen? Nein, ich möchte gern die Zeit zurückdrehen und anhalten, ich wünsche mir, es gäbe kein Morgen. Aber die Dunkelheit weicht unaufhaltsam dem grauen Morgen. Immer noch bin ich wach und die Angst schnürt mir fast die Luft ab.

Im Bauch hab ich das Gefühl von einem Stein so groß wie ein Fels, der mich fast erdrückt. Ich muss, ja ich muss mich zusammennehmen, ich will den anderen meinen Schmerz nicht zeigen. Mein Körper fühlt sich schwer und gelähmt an, aber ich muss aufstehen, ich muss endlich aus dem Bett. Langsam schleppe ich mich ins Bad und gehe dann in die Küche. Was will ich hier? Bin ich es, die den Frühstückstisch deckt? Mein Hals ist zugeschnürt. Da höre ich Schritte im Haus und die Tür geht auf. M. hält N. in ihren Armen und murmelt leise vor sich hin: "Guten Morgen." Ich will auf sie zugehen, aber von mir kommt auch nur ein leiser Hauch: "Guten Morgen". Ich halte diesen Anblick, meine Angst, meinen Schmerz kaum noch aus.

Hinter ihnen erscheint J. Das endlose Schweigen wird mir unerträglich, so sage ich: "Kommt her und esst etwas". Von M. kommt: "Ich habe keinen Hunger". J. antwortet mir: "Ich bin satt".
M. gibt mir N. in den Arm: "Mutti gib N. bitte die Flasche". Ich drücke N. an mich und während sie langsam ihr Fläschchen trinkt rede ich leise auf sie ein. M. ist in den Garten gegangen und nimmt die Wäsche von der Leine.

- Gestern Nachmittag kam ein Mitarbeiter vom Rat des Kreises zu M. in die Drogerie und teilte ihr mit, dass ihr Antrag auf Familienzusammenführung genehmigt wurde. – Sie und N. müssen heute, Dienstag, den 20. August 1985, bis 20 h die DDR verlassen haben. – M. kam schnell und aufgeregt von der Arbeit zu mir in die Bank und erzählte die Neuigkeit. Eilig fuhren wir nach Hause. In meinem Kopf flogen die Gedanken wild umher. Was war zuerst zu tun? An alles, was M. für sich und N. benötigt, musste gedacht werden; denn nachsenden ist nicht drin, ist verboten. Von M. und N. – mit ihren knapp 8 Monaten – lag noch benutzte Wäsche im Korb. So wollte ich die Sachen nicht in den Koffer tun. Einen Teil der Wäsche nahm I. – unsere Nachbarin - zum Waschen mit und die übrigen Sachen steckte ich in die Waschmaschine. -

Abschied und Schmerz

Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. N. hat ausgetrunken. Ich gehe mit ihr ins Bad und zum Anziehen lege ich sie auf die Wickelkommode. Mein Impuls, meine Sehnsucht: ich möchte Nadine in die Arme nehmen, ganz fest an mich drücken und sie nicht mehr los lassen. Ich darf, kann, wage es nicht und so versuche ich mit zittriger Stimme dem Kind ein Lächeln zu entlocken.

Die " unter die Haut gehende " Geschichte geht hier weiter:
https://www.mdr.de/damals/archiv/artikel7286.html
Interessierter
 

Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon Volker Zottmann » 14. Juli 2018, 14:32

Warum war nach Monaten und Jahren des Wartens, denn dann die genehmigte Ausreise in aller Regel in 24 bis 48 Stunden zu bewerkstelligen?
Was hatte es für einen Sinn, die Ausreisenden noch mal so verletzend zu schikanieren? Ihnen blieb kaum Zeit noch was zu ordnen. Verabschiedungen gab es allenfalls im Schnelldurchlauf. Diese damalige Tragik habe ich ein paar mal an Nachbarn und bei Kollegen erlebt. Der Staat und seine Organe waren nie wirklich freundlich. Und selbst genehmigte Aussiedler, die ja offenbar einen bestätigten, berechtigten Grund hatten, wurden bis zur letzten Sekunde als Aussätzige behandelt.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 

Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon augenzeuge » 14. Juli 2018, 15:05

Erstaunlich, wie die Dinge manchmal abliefen. Da kam ein Mitarbeiter des Rat des Kreises zum Arbeitsplatz und teilte das schon mit?

Die kurze Zeitspanne hatte den Zweck, dass man unauffällig, schnell, ohne große Kommunikation zu bekannten Menschen, weg musste.

Bei uns lief es anders. Noch heute sehe ich die Einzelheiten des sonnigen Dezembertages vor mir.

Der Meister kam gegen 11 Uhr zu mir, du sollst zum Rat des Stadtbezirkes kommen.
Am Werktor stand meine Frau, bei ihr lief es auch so ab.

Das Gespräch war nicht lang. Eine Zusage gab es nicht, der Antrag wird erneut geprüft. Man bekam eine Liste von Banken, die man aufzusuchen hatte. 1 Tag Zeit.

Nach Abgabe passierte nichts...

Nach 2 Wochen gab ein Mopedfahrer abends eine Vorladung ab. Rathaus.. folgender Tag ... 10 Uhr.

Aberkennung der Staatsbürgerschaft. 40 Euro? ID Karte mit Visa übergeben.
Sollte man morgen noch da sein, Inhaftierung.

16:30 Uhr saßen wir im Zug. Von Freude keine Spur, nur viele Tränen.

AZ
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„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war“.
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon augenzeuge » 14. Juli 2018, 15:27

Auch das passierte an diesem Tag.
viewtopic.php?f=72&t=891&p=41216#p41216
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon Volker Zottmann » 14. Juli 2018, 18:28

augenzeuge hat geschrieben:Auch das passierte an diesem Tag.
viewtopic.php?f=72&t=891&p=41216#p41216
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Danke Jörg, für den schönen Querverweis. Von Manudave hört man aber auch nichts mehr.... [frown]

Gruß Volker
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon manudave » 16. August 2018, 16:06

Volker Zottmann hat geschrieben:
augenzeuge hat geschrieben:Auch das passierte an diesem Tag.
viewtopic.php?f=72&t=891&p=41216#p41216
AZ

Danke Jörg, für den schönen Querverweis. Von Manudave hört man aber auch nichts mehr.... [frown]

Gruß Volker


Da isser... er lebt noch... [hallo]
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon Volker Zottmann » 16. August 2018, 21:13

manudave hat geschrieben:
Da isser... er lebt noch... [hallo]


JAAA... er lebt noch, erlebt noch....
Na das ist ja schön, Du solltest aber ruhig etwas die Altherrenrunde dauerhaft durch Anwesenheit verjüngen.
Fände ich schön, Manudawe, wenn ich von Dir öfter lesen dürfte.

Gruß Volker
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon augenzeuge » 21. August 2018, 14:42

Manudave gehört zur Gattung der Antimurmeltiere. Er wacht fürs Forum auf, wenn es draußen kalt ist. [grins]
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon Edelknabe » 28. März 2020, 17:22

Fand keinen passenden Fred aber der macht es auch. He unser David (Manudave) ist mal wieder hier ich fasse es nicht. Wie ist es dir denn ergangen in den Jahren deiner Abwesenheit? Eben von hier im Forum. Die Kinderlein und die Frau gesund ....ich möchte es doch hoffen mitteljunger Point Alpha Wächter. Konntest du mal wieder irgend einen Politiker zum gemeinsamen Fototermin überraschen, oder hat die Kinderzahl im Haushalt zugelegt, so das du derartige Zeit nicht mehr hast?

Rainer Maria,....also du erfreust des älteren Rainers Herz,nur umarmen kann ich dich momentan leider nicht.
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon Edelknabe » 30. März 2020, 10:12

Schön das du geantwortet hast David. Und ich sehe du wirst langsam erwachsen, wirst sesshaft auf der eigenen Scholle.Das hat was, steck die Kohle ins Eigene, das machst du völlig richtig. Ich hab ja auch so ne ehrwürdige Hütte ( über 115 Jahre alt), also mit der bin ich erst fertig wenn ich die Radischen dann von unten betrachten werde. Aber vielleicht auch nicht, dann machen meine Enkelinnen halt weiter. Mit dem Bier (dessen Verbrauch und Menge) David ist das nicht mehr so, weil, man wird älter, wird bescheiden, lebt somit gesünder.

Rainer Maria, ....aber jetzt trink ich mal ein Glas, völlig außer der Reihe, somit auf unser aller Gesundheit. Prost Männer und Frauen.
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Re: Autobiographische Erzählung einer Ausreise

Beitragvon Volker Zottmann » 30. März 2020, 10:29

Früh schon saufen Rainer-Maria?
Da mach ich nicht mit. Muss nämlich nacher noch zur Ohrologin. Meine Frau hört so schlecht.... [laugh]
Und jetzt bei Schneeglätte will ich keinen Alkohol auf dem Zähler haben.

Alte Gemäuer haben was. Neu bauen kann jeder. Altes erhalten, oder wie , Altes umwidmen, das machte mir Freude.
Meine Bude ist 1924 als Bauerngehöft erbaut und 1925 schon teils abgebrannt.
1994 habe ich alles gekauft und innerhalb eines Jahres bis auf den Stallbau abgerissen und zum Wohnhaus ausgebaut.
Nachdem hintereinander meine Kinder dort wohnten und später Urlauber, sitze ich nun nach neuerlicher Moderisierung schon 10 Jahre hier drinnen. Warm Wasser und Strom vom Dach verstehen sich von selbst.

Wenn Du, David, aber so eine hohe Wattzahl auf dem Dach produzierst, muss Dein Bau ja schon enorme Ausmaße haben. Alle Achtung.

Gruß Volker
Volker Zottmann
 


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