Mauertote - "Leichensachen" entsorgte die Stasi im Krematorium
Sie wird nie wissen, warum er das getan hat. Warum ihr Vater am 7. August 1970 an der Neuköllner Kiefholzstraße in das Grenzgebiet gegangen ist. 177 Schüsse feuerten die Soldaten auf Gerald Thiem ab. "Wie auf ein Stück Vieh", sagt Monika N. Sie war 13, als sie ihren Vater verlor. Ihre Schwester war ein Jahr älter. Ihre Mutter war total verzweifelt.
Das Schlimmste an jenen Tagen im Sommer 1970 war die Ungewissheit. Denn dass Gerald Thiem von Grenzern aus Ost-Berlin erschossen worden war, das hat damals niemand im Westen gewusst. Erst 24 Jahre später erfuhren Monika N. und ihre Schwester, warum ihr Vater nicht nach Hause kam. Da war die Mutter schon einige Jahre tot. Sie hatte immer gedacht, ihr Mann hätte sich einfach aus dem Staub gemacht.
Das MfS hatte nach Thiems Tod zunächst beobachtet, wie die im Westteil der Stadt erscheinenden Zeitungen auf die Schüsse am 7. August reagierten. Als sich abzeichnete, dass niemand einen Zusammenhang zwischen den Schüssen und dem Verschwinden von Gerald Thiem in Erwägung zog, schlossen sie die "Leichensache" einfach ab. Dazu gehörte die heimliche Einäscherung des Leichnams, dessen Asche am 22. September 1970 im Aschenhain unter der Nummer 15 ausgestreut wurde.
Einsiedel starb noch im Grenzstreifen
Am frühen Morgen des 15. März 1973 entwendete er auf dem Friedhof zwei Leitern. Es gelang ihm, mit einer Leiter den sogenannten Hinterlandzaun zu überqueren. Doch als er die zweite Leiter an die echte Mauer anlegte, eröffneten zwei Grenzposten das Feuer. Einsiedel starb noch im Grenzstreifen.
Nach einigen Wochen erhielt seine Frau die Nachricht, dass die Polizei den Trabant ihres Mannes in einem Waldstück gefunden hätte. Horst Einsiedel sei aller Wahrscheinlichkeit einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen.
Glaubte ihnen die Frau? Die Mitarbeiter des MfS waren sich nicht sicher. Sie fingen ihre Briefe ab, sie überwachten Telefonate. Sie bekamen heraus, dass sie Zweifel an einem Gewaltverbrechen hatte. Nach drei Monaten unterbreitete die Stasi ihr eine neue Nachricht: Sie hätten die Leiche ihres Mannes gefunden. In einem Absperrgitter bei Potsdam. Bei seinem Fluchtversuch wäre er ertrunken. Sie rieten ihr dringend ab, die stark verweste Leiche noch einmal anzusehen. Tatsächlich war Horst Einsiedel bereits eingeäschert worden. Im Krematorium Baumschulenweg.
Das Krematorium Baumschulenweg war die letzte Station in einem ausgeklügelten Verschleierungsprozess, für den das Ministerium für Staatssicherheit unter dem Titel "Bearbeitung von Leichenvorgängen, soweit es sich um Vorkommnisse an der Staatsgrenze zu Westberlin handelt" genaue Anordnungen gegeben hat. Von der Ausstellung des Totenscheins bis zur Verbrennung der Leiche leitete allein die Stasi die Vorgänge. Sie sorgte dafür, dass Beweismittel manipuliert, Totenscheine und Sterbeurkunden gefälscht wurden. Dabei gaben sich die Mitarbeiter gegenüber den verschiedenen Behörden sowie den Familien des Todesopfers als Angehörige der Volkspolizei aus.
Wie Hans-Hermann Hertle und Maria Nooke vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam während ihres Forschungsprojektes "Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989" feststellen konnten, versuchten nach der Wiedervereinigung Ärzte, Staatsanwälte, Volkspolizisten, Mitarbeiter der Standesämter sowie des Krematoriums und der Friedhofsverwaltungen die Vertuschungsstrategien zu verheimlichen. Gemeinsam mit den ehemaligen Stasiverantwortlichen bildeten sie "eine Art Schweigekartell". Bis heute könne deshalb nicht geklärt werden, wo die sterblichen Überreste von sechs Maueropfern sind.
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