Der Spiegel 10/1990 v. 05.03.1990
"Ein Trümmerhaufen der Geschichte"Im Treppenaufgang des Stabsgebäudes der Schweriner Max-Bürger-Kaserne hängen wie in
alten Zeiten Fahnen, Freundschaftsschleifen, Bestwimpel und ein Holzbrett, auf dem in
großen Messingbuchstaben steht: "Alles für den Sozialismus".
"Das wird hier wohl auch nicht mehr lange bleiben", frotzelt Oberstleutnant Bodo Schwarzer,
Presseoffizier der 8. Motorisierten Schützendivision der Nationalen Volksarmee (NVA).
Kommandeur der Division ist Generalmajor Manfred Jonischkies, 48, ein kleiner, drahtiger
Mann mit Bauchansatz, den er durch eine steif-stramme Haltung zu verbergen sucht.
"Bitte fragen Sie", sagt Jonischkies mit befehlsgewohnter, viel zu lauter Stimme. Er muß sich
wohl selber Mut machen: West-Besuch! Vor ihm auf dem blitzblank polierten Schreibtisch
liegen ein Ringbuch und, exakt ausgerichtet, sechs Bleistifte.
Die Schweriner Division galt bei den für die Feindaufklärung zuständigen G-2-Offizieren der
Bundeswehr als besonders guter und zuverlässiger Verband: Sie sollte, flankiert von der
94. und der 21. sowjetischen Schützendivision, im Ernstfall zwischen Lübeck und Gudow
über die Grenze in Richtung Norden nach Schleswig-Holstein vorstoßen.
Jonischkies bestreitet das: Seit 1987 sei die Armee "auf Defensive" eingestellt; sein in
Goldberg stationiertes Panzerregiment sei aufgelöst, der "Operationsplan geändert"
worden.
Jonischkies möchte gern "sein Gegenüber", den Kommandeur der 6. Panzergrenadier-
division in Neumünster, Generalmajor Klaus-Christoph Steinkopff, kennenlernen, ganz
offiziell von Kamerad zu Kamerad, "nicht als Bittsteller".
Steinkopff ist aber noch nicht soweit. Er dürfe - das sei geheim - nicht sagen, wer ihm
da "auf der anderen Seite" gegenüberstehe. Er habe "keine Berührungsängste, natürlich
nicht", für ihn gelte der Primat der Politik. Aber vielleicht doch ein bißchen Angst?
Oder Sorge vor einem Verlust des gewohnten Feindbildes?
Seit Öffnung der Grenzen vor vier Monaten stimmt nichts mehr in der einst so heilen
Welt der Soldaten in Deutschland-Ost und Deutschland-West. Die NVA bietet Bruderschaft,
die Bundeswehr sträubt sich gegen die heftige Umarmung. Der NVA-Offizier, zum Haß
auf die aggressiven Imperialisten erzogen, kennt plötzlich "keinen Feind" mehr, der
Bundeswehr-Offizier, zu Toleranz und Offenheit verpflichtet, muß hinhaltenden
Widerstand leisten, weil Verteidigungsminister Gerhard Stoltenberg und Generalinspekteur
Dieter Wellershoff an alten Erlassen festhalten.
"Die Ereignisse", sagt Jonischkies etwas verbittert, "haben sich durchschlagend auf die
Moral der Truppe ausgewirkt. Es gibt viele Offiziere und Unteroffiziere, die das nicht
verkraften."
Schon Anfang Dezember, einen Monat nach Grenzöffnung, hatten sich in mehreren
Standorten der Schweriner Division Soldatenräte gebildet und ein "menschliches Klima"
gefordert: mehr Freizeit und weniger Drill, Ausgang in Zivil, Verzicht auf Schikanen,
Mitsprache bei Aufstellung der Dienstpläne. "Die Leute, an die 500, standen plötzlich
auf der Matte und wollten diskutieren", sagt Oberstleutnant Uwe Ziegler, 35, Kommandeur
des in Hagenow bei Schwerin stationierten Schützenregiments "Ernst Moritz Arndt".
"Bei mir gab´s die erste Demonstration in der Armee überhaupt." Ziegler handelte
"ohne Anweisung von oben", wie er sagt. Er ließ Soldatenräte wählen und gab ihnen den
Befehl, ihre Forderungen "mal schön aufzuschreiben", dann werde man schon weitersehen.
Jonischkies, von Ziegler alarmiert, sucht Rat im Verteidigungsministerium in Strausberg
bei Berlin, aber dort fühlte sich keiner zuständig.
"Da hab ich mir gedacht: Als Kommandeur mußt du so handeln, als ob du gewählt werden
wolltest", behauptet Jonischkies. Seine Stimme klingt plötzlich so leise und verzagt,
als könne er immer noch nicht glauben, was sich da ereignet hat.
Die Proteste in Hagenow konnten in der auf Geheimhaltung gedrillten Armee noch
verschwiegen werden. Dann aber kam Beelitz - heute Synonym für den ersten Aufstand
in der NVA.
Der Anlaß war eher nichtig: Einige Soldaten hatten ihre Offiziere gebeten, zu Silvester
ausnahmsweise in der Kaserne mit einem Glas Sekt anstoßen zu dürfen. Die Antwortet
war ein harsches Nein.
Die Soldaten, Unteroffiziere auf Zeit und Wehrpflichtige, zogen verärgert auf ihre Stuben,
die Stimmung schlug in Wut um. Keiner der Beteiligten weiß heute mehr, wer eigentlich
die Idee zur Soldatenrevolte hatte.
In Windeseile vervielfältigten die Beelitzer Volksarmisten einen Forderungskatalog, der
eigentlich nur für ihre Vorgesetzten bestimmt war; sie schrieben "Streikaufruf" daüber und
"An alle, an alle!"
Sie bastelten aus Pappe und Tüchern Transparente und zogen vor die Kaserne:
"Nur wenn die preußisch-militaristischen Überbleibsel in unserer Armee beseitigt werden,
verdient sie den Namen ´Nationale Volksarmee´." Die Demokratie dürfe nicht vor den
Kasernentoren haltmachen.
Der Funke sprang über, Beelitz war plötzlich überall: in Rostock und Brandenburg, in
Schwerin und Erfurt, in Cottbus, Basepohl, Neuseddin, Saßnitz und Warin. Soldaten
verweigerten Befehle, ließen Offiziere strammstehen und Flaschen kreisen, wählten
Soldatenräte und rannten scharenweise auf die Straße: eine "Meuterei", die nach
Paragraph 259 der Militärgerichtsordnung der NVA mit "Freiheitsstrafen bis zu acht
Jahren" geahndet wird.
...und hier kann man weiterlesen:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13497057.htmlW. T.