Fehlstart eines Bürgers der Bausoldat werden wolltevon Uwe Kolbe
Am 2. November 1976 erlebte ich einen kleinen Fehlstart. Die Vorbereitungen auf das Datum waren sehr unzureichend. Erst nach Erhalt der Einberufung zur NVA hatte ich auf dem Wehrkreiskommando erklärt, ich würde es vorziehen, Bausoldat zu werden, einer ohne Waffe also, einer mit dem kleinen Spaten auf den Schulterstücken, die man so selten sah in den Zügen, an den Kurzurlaubswochenenden randvoll mit saufenden Soldaten […] In der dazu notwendigen schriftlichen Erklärung hatte ich mich zum Pazifisten stilisiert. Die Begründung war alles andere als stichhaltig. Auf Grund der Lage hatte ich versucht, unpolitisch zu formulieren, auf private Gründe zu schieben, was doch ganz und gar politisch motiviert war.
Ich war nicht bereit, "auf Befehl der Arbeiter- und Bauernregierung" jeglichen Gegner abzuwehren. Ich war nicht einmal bereit, irgendwen als Gegner zu bezeichnen. Zwar stand ich auf der üblichen, der antikapitalistischen Seite, aber eher so, wie ein rechtgläubiger Anarchist jegliche Herrschaft des Menschen über seinesgleichen abzulehnen hat. Gleich kochte die Wut in dem Offizier hoch: Na warten Sie mal hier! Erst, nachdem mich ein anderer in die Mangel genommen hatte, nahm man meine Erklärung entgegen. Am liebsten hätte dieser mich auf die Schnelle noch davon überzeugt, dass eine Verpflichtung für die dreijährige Unteroffizierslaufbahn das Allerbeste für mich wäre. Ob ich denn am 2.11 zum Stellplatz käme? Ja, sicher, als Bausoldat, nickte ich. Ich komme allein nach Storkow.
Bevor ich zum Einberufungsdatum irgendwohin hatte kommen können, waren die schon gekommen, in Form zweier Polizisten. Ich war gerade beim Rasieren, was ich damals eigentlich noch nicht regelmäßig tun musste. Schließlich hatte ich ja "freiwillig" kommen wollen. Die Grünen warteten. Mit meinem Lieblingsköfferchen ging ich mit: Jeans mit leichtem Schlag, dicker blauer Pullover, die Haare fast zu kurz für einen militärischen Schnitt. Sie fuhren mich zum Wehrkreiskommando. Ich sagte, ich wäre eigentlich schon selbständig auf dem Weg gewesen. Ach so. Nach einer halben Stunde ließen sie mich wieder ziehen. Es war knapp. Fast musste ich rennen zur S-Bahn. In Königs-Wusterhausen warteten schon die "Ellos", kleine Pritschenwagen. Man stand von Anfang an rum und wartete. Die erste Begegnung mit dem "Sinn des Soldatenseins"(wie jener feine Ausdruck geht): Warten. Warten auf den nächsten Befehl. Warten auf das Verpflegung-Fassen. Warten auf den nächsten Krieg, der endlich das Warten beendet.
Das Kasernengelände bestand aus halbfertigen Bauten am Rande eines älteren Regimentskomplexes. Die Erklärung für die Baustelle wurde als Gerücht nachgereicht: Helsinki, die KSZE, lag zwei Jahre zurück. Die DDR hatte sich irgendwo verpflichtet, die Soldaten ohne Waffe, Bausoldaten, aus den eigentlichen militärischen Objekten und Pflichten herauszuhalten. Dieses Bataillon hier war ein Nachfolgetrupp jener Bausoldaten-Einheiten, die vorher militärisch und zivil, z.B. am Palazzo Prozzo in Berlin, gebaut hatten. Wir mussten uns die Unterkünfte erst selber einrichten: Baupioniere.
Draußen kahle Birken. In den Zweigen Massen von laut krächzenden Krähen. Nach weiterem Herumstehen gings "geordnet" zum Erhalt der "Bekleidung und Ausrüstung", kurz B/A. Als ich an der Reihe war, sagte ich, nein, das nehme ich nicht. Ich bin schließlich Bausoldat. Wie bitte? Ja, wissen Sie das hier gar nicht? Einen Moment mal! Der Bataillonskommandeur: Sind Sie bereit in meiner Einheit zu dienen, ja oder nein? Ich: Ja, als Bausoldat. Er: Ich frage, sind Sie bereit zur Ableistung Ihres Grundwehrdienstes mit allem, was dazu gehört, also auch mit der Waffe, in meiner Einheit, ja oder nein? Ich: Nein. Es saß eine Vorzimmerdame dabei. (Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, wie die Frauen in Uniform, in der Regel mit Unteroffiziersrängen, in der niederen Soldatensprache hießen).
Das Protokoll war kurz: Nicht bereit usw. Der Oberstleutnant befahl etwas ins Telefon. Zwei Wachsoldaten kamen. Ist sofort in Arrest zu bringen. Sie brachten mich in eine Zelle im Wachgebäude am Tor. Am nächsten Morgen um sechs fuhr ein Trabanten-Kübel mit Planenverdeck vor mit einem Offizier und einem Fahrer drin. Man schwieg. Ich hatte noch die Zivilklamotten an. Man schwieg bis Eggersdorf bei Berlin. Militärstaatsanwalt der Landstreitkräfte.Zwei Dienstgrade mit Schreibmaschinen. Dazwischen ich in der Zange. Name, Geburtsdatum usw. Sie verweigern also den Wehrdienst. Nein, ich verweigere nur den Dienst mit der Waffe. Sie haben das zu spät erklärt. Ich habe es bereits auf dem Wehrkreiskommando erklärt. Sie haben es nach Erhalt der Einberufung erklärt. Sie unterliegen jetzt der Militärgerichtsbarkeit. Sie begehen bzw. haben bereits begangen Wehrdienstverweigerung und werden entsprechend Militärrecht als Angehöriger der NVA behandelt. Ich erkläre nochmal, dass ich nur den Dienst mit der Waffe, nicht den Militärdienst verweigere. Das ist zu spät. Sie haben doch ein Kind, nicht? Ja, das ist jetzt zwei Monate alt […] Sie werden es dann wohl mindestens zwei Jahre nicht sehen. Ich bekam feuchte Augen: Ich verweigere doch nur die Waffe. Ich bin Bausoldat. Sie können erklären, was Sie wollen. Bleiben Sie dabei? Unter Tränen: Ja. Dafür ist dann der Militärrichter von Berlin zuständig.
Mit dem Kübel nach Berlin. Dieselben, Offizier und Fahrer. Schweigen bzw. einzelne, quasi freundliche Bemerkungen des Offiziers. Wir kannten uns jetzt schon immerhin einen halben Tag. In Eggersdorf hatten wir ja auch etwas essen müssen. Keibelstraße Berlin, Polizeipräsidium. Hinter irgendeiner Eisentür hintenrum in einen neondunklen Gang. Ein Schließer offenbar, einer in Blau: Lümmel da nicht so rum! Weg von der wand! Der Weg in den Knast hoch. Die Umgänge. Die Netze gegen das "Fliegen". Wie hieß der amerikanische Film nochmal? "Das Glashaus". Taschen ausleeren. Gürtel ab. Schnürsenkel. Die Zelle. Etwa eineinhalb Stunden zu warme, zu feuchte Luft. Bleiches Tageslicht durch die Glasziegel.
An vielen Zellen vorbei. Ausführliches zeigen des Instrumentes. Der zweite "Raupenschlepper" meiner kurzen Laufbahn: ein Oberstleutnant, daneben ein Schreiberdienstgrad. Papiere: "Der Militärrichter von Berlin". Die letzte Freundlichkeit des erzürnten Vaters gegenüber dem ungehorsamen Sohn: Na, haben Sie es sich noch mal überlegt? Ja, ich möchte Bausoldat werden. Das können Sie nicht mehr. Sie haben in subjektiver und objektiver Hinsicht den Tatbestand der Wehrdienstverweigerung erfüllt. Sie können vor Gericht erklären, was Sie wollen. Zwei bis fünf Jahre Haft. Hier ist Ihr Haftbefehl. Ein gelber Zettel. Für Sie gibt es nur noch eine Möglichkeit, mit einem blauen Auge davonzukommen. Sie können jetzt sofort zu Ihrer Einheit nach Storkow zurückfahren, wenn Sie erklären, dass Sie bereit sind, Ihren Wehrdienst zu leisten.
Ich war bereit. Ich war bereit, schriftlich zu erklären (und hab es noch heute im Kopf):"Ich, Name, geboren, bin bereit, unter Hinweis auf die strafrechtlichen Konsequenzen der Verweigerung der Waffe, meinen Grundwehrdienst entsprechend den Vorschriften zu leisten. Ort, Datum."
http://www.horch-und-guck.info/hug/arch ... -46/04616/Die Genossen hatten schon ein merkwürdiges Demokratieverständnis..