Ich wollte nicht zur Armee. Jedes Militärische, jede Vorschrift, die ich nicht verstand, hatten in mir frühzeitig Misstrauen geweckt. Bereits im Wehrlager, welches alle Jungen der neunten Klassen besuchen mussten, entwickelte ich heftige Abneigungen gegen die täglichen Schießübungen und das blöde Marschieren.
Einige Jahre später wurde ich im Sommer 88 zur Musterung bestellt. Ich hatte mich bereits vorher für den Dienst als Bausoldat entschieden. Auf die Frage des Leiters der Musterung nach dem Motiv meiner Entscheidung antworte ich ihm: "Ich verweigere den Dienst bei der bewaffneten Armee aus humanistischen Gründen".
Es war eine merkwürdige Situation. Während sich die Demonstrationen in der gesamten Republik ausbreiteten, sollte ich im brandenburgischen Storkow meinen Wehrdienst als Bausoldat beginnen. Es war zum Verzweifeln. Warum wurde ich seit dem Beginn meiner Lehrzeit ständig zu Handlungen gezwungen, die ich eigentlich nicht begehen wollte? Warum war ich jetzt bei der Armee, anstatt draußen zu demonstrieren? Warum wurde draußen die Mauer geöffnet, während wir in der Kaserne waren?
Kurz vor dem Mittagessen wurden wir zum Appell gerufen. Unsere Kompanie zählte fast hundert Mann. Uns gegenüber standen vier höhere Soldaten mit verbissenem Gesicht im märkischen Sand. Sie hatten bereits am dritten Tag ihre Machtlosigkeit uns gegenüber erkannt. Sie hatten sich gefügt und ihrem Schicksal ergeben. Es war nicht mehr die starke, die furchteinflössende Armee. Die höheren Soldaten, die uns kommandierten, hatten Angst vor uns. Wir konnten ihre Angst spüren. Wir spürten sie, weil der höhere Soldat, der für unsere Kompanie verantwortlich war und sich als Unteroffizier vorstellte, uns morgens mit einem sanften Klopfen an der Stubentür weckte. Er sagte höflich “Bitte Aufstehen”, statt uns mit einem zackigen “Alles raus” unsanft und barsch aus den Betten zu schmeißen.
Wir spürten die Angst, weil der Unteroffizier uns im lockeren Reih und Glied marschieren ließ, statt auf stramme Marschordnung und Disziplin zu achten. Und wir spürten die Angst des Unteroffiziers, weil er uns am zweiten Sonntag nach der Einberufung einen Gottesdienst gestattete, statt diesen, wie bisher, energisch zu verbieten.
Die Unteroffiziere, die Offiziere und auch die Generäle bangten um ihre künftigen Stellungen. Ihre berufliche Zukunft in einem freien Land stand auf dem Spiel. Keiner von ihnen wusste, was der nächste Tag bringen würde, und so verhielten sie sich auch. Die Zeit des Schikanierens und des Erteilens sinnloser Befehle war vorbei. Jetzt galt es für sie, sich der Zukunft zu öffnen. Die Grimmigkeit lag hinter ihnen, aber die Freundlichkeit sollte trotz aller Bemühungen nicht so recht gelingen.
Weiter geht diese interessante Erzählung eines Zeitzeugen hier:
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