Re: Straßenkarten, Wanderkarten, Atlanten in der DDR
Verfasst: 10. Oktober 2017, 20:26
Die DDR ließ topographische Landkarten systematisch verfälschen. Bevölkerung und Wirtschaft wurden in die Irre geführt Landschaft nur für den Dienstgebrauch
Die Stimmung im Auto war gereizt. Das junge Paar aus West-Berlin, das Anfang 1990 in das bis dato nur mühselig erreichbare Umland Berlins aufgebrochen war, hatte sich bei seinem Ausflug irgendwo in der Gegend von Strausberg verfahren. Schon etliche Kilometer schuckelte man jetzt über wellige Feldwege aus schierem Sand, obwohl die Karte des VEB-Tourist-Verlages eine dick rot eingezeichnete Landstraße zeigte. Die Situation spitzte sich dramatisch zu, als die für die Orientierung zuständige Beifahrerin behauptete, man befinde sich mitten in einem menschenleeren Waldgebiet, obgleich sich draußen vor der Windschutzscheibe gerade das Panorama einer wachturm- und stacheldrahtbewehrten Militäranlage der NVA entfaltete. Das Wort "dämlich" fiel.Eine Rehabilitierung der Spezies Beifahrerin erfolgte erst, als im Juni 1990 der Direktor des VEB-Tourist-Verlags, Reginald Pustkowski, öffentlich gestand, auf Geheiß staatlicher Stellen jahrzehntelang Straßen- und Stadtkarten durch gezielte Verzerrungen in der Darstellung verfälscht zu haben. Auch Helmut Langer, Leiter der Kartenredaktion im Gothaer Haack-Verlag, gab solche Praktiken zu. Weitgehend unbekannt blieb bis heute, dass die DDR nicht nur Karten für Touristen (auf denen die "BRD" und "West-Berlin" zur Erschwerung der "Republikflucht" nicht dargestellt waren) frisierte, sondern auch die offiziellen topographischen Kartenwerke. Mit einem Forschungsprojekt und einem Workshop für Kartografen, Geodäten, Archivare und Historiker versuchte die Gauck-Behörde in Kooperation mit der "Museumsstiftung Post und Telekommunkation" vergangene Woche in Berlin, die Konturen des DDR-Kartenwesens wissenschaftlich nachzuzeichnen. Das Ergebnis: Bevölkerung, Wirtschaft und Wissenschaft der DDR sind jahrzehntelang systematisch mit verfälschten topographischen Landkarten irregeführt worden. Das ins Absurde gesteigerte militärische Geheimhaltungssystem erschwerte den vernünftigen Gebrauch der für ein Industrieland unentbehrlichen Planungsunterlagen.Ausgabe für die VolkswirtschaftDie Ost-West-Auseinandersetzung und die Einbindung der beiden Teile Deutschlands in die verfeindeten Militärblöcke führte dazu, dass die DDR 1953 von der Sowjetunion ein mit dem Westen inkompatibles geodätisches Netz ("System 42") einführte. Dies wies unter anderem eine andere Breite der Meridianstreifen auf. Übernommen wurde auch die rigide sowjetische Sicherheits- und Geheimhaltungsdoktrin: "Die Genossen in Moskau erwarteten, dass sich die DDR als der am weitesten westlich gelegene Staat des Warschauer Paktes in besonderem Maße an die in der UdSSR praktizierte Geheimhaltung halte", heißt es in einer Akte aus dem Jahr 1958, die Roland Lucht bei dem Workshop vorstellte. Lucht ist Mitarbeiter der Karten-Projektgruppe um die Historikerin Dagmar Unverhau in der Gauck-Behörde. Das bedeutete: An der Geheimhaltung topographischer Karten und des "Systems 42" war nicht zu rütteln. Dabei ging es den Sowjets besonders um das Koordinatensystem, weil sie vermuteten, dass der Westen es für die Zielprogrammierung von Raketen brauchte. Als eine Art Kompromiss mit den wachsenden Bedürfnissen der zivilen Wirtschaft nach aktuellem Kartenmaterial wurde bei der "VII. Konferenz der Vertreter der Geodätischen Dienste der sozialistischen Länder" 1965 jedoch die Möglichkeit eingeräumt, für die sozialistischen Volkswirtschaften ein eigenes Kartenwerk zu schaffen, aus dem man militärisch verwendbare Informationen entfernte. Auf dieser Basis verfügte der Nationale Verteidigungsrat der DDR am 13. Oktober 1965 die Schaffung einer neuen Kartenserie "Ausgabe Volkswirtschaft" (AV). Sie unterschied sich von der militärisch genutzten, später "Ausgabe Staat" (AS) genannten Version laut Vorschrift dadurch, dass "vertrauliche Angaben wie einheitlicher Blattschnitt, geodätische Netze, Trigonometrische Punkte, Qualitäts- und Quantitätsangaben entfernt sind". Dazu zählten etwa Angaben über Straßenbreiten oder die Tragfähigkeit von Brücken. Zusätzlich wurde für diese AV-Karten ein eigenes, von den AS-Karten unterschiedliches örtliches Koordinatensystem eingeführt. So wollten die Behörden verhindern, dass jemand aus den AV-Karten auf die Koordinaten in AS-Karten schließt. Zentral zuständig für die Durchführung dieser Anordnungen war die "Verwaltung Vermessung und Kartenwesen" (VVK) im Ministerium des Innern, die in Kooperation mit dem "Militärtopographischen Dienst" (MTD) die AV-Karten erstellte. Bis zum Ende der DDR, fand Lucht heraus, wurde von diesen Stellen in 185 Vorschriften und Redaktionsanweisungen penibel verfügt, wie das Landschaftsbild der DDR darzustellen sei. So verschwanden komplette Flugplätze und Kasernenanlagen vom Kartenbild (siehe Abbildungen), mitten aus Dresden sogar der allgemein bekannte Flughafen Dresden-Klotzsche. Die Chemieanlagen in Schkopau waren von den angrenzenden Wohnhäusern nicht mehr zu unterscheiden. Auf einer Karte wurden Gebiete an der Grenze zur Bundesrepublik in einer Breite bis zu 3,5 Kilometern einfach weggelassen. Festpunkte wie Kirchen und Türme, die der Orientierung dienen konnten, wurden, wie es die Vorschriften vorsahen, "sinnvoll" um einige Millimeter versetzt eingezeichnet. Zu ähnlichen Erkenntnissen wie die Gauck-Forscher kam der Kartografiehistoriker Wolf G. Koch von der Technischen Universität Dresden. Die Auswirkungen für die DDR-Volkswirtschaft, wo genaue Karten für die Industrieprojektierung, die Raum- und Verkehrsplanung oder die Hydrogeologie gebraucht wurden, waren fatal: "Ein Betrieb aus der Energieversorgung konnte zum Beispiel seine Gasleitungen nicht korrekt einzeichnen, weil in der AV-Karte Trigonometrische Punkte für die Vermessung verschoben waren", berichtet ein früherer DDR-Kartograf. "Ähnliche Probleme hatten zum Beispiel Brunnenbohrbetriebe." Die Betriebe halfen sich teilweise damit, dass sie auf verstaubte Karten aus der Vorkriegszeit zurückgriffen. Obendrein waren die AV-Karten als "Vertrauliche Dienstsache...
Hier kann man weiterlesen:
– Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/16216976 ©2017
Gruß Volker
Die Stimmung im Auto war gereizt. Das junge Paar aus West-Berlin, das Anfang 1990 in das bis dato nur mühselig erreichbare Umland Berlins aufgebrochen war, hatte sich bei seinem Ausflug irgendwo in der Gegend von Strausberg verfahren. Schon etliche Kilometer schuckelte man jetzt über wellige Feldwege aus schierem Sand, obwohl die Karte des VEB-Tourist-Verlages eine dick rot eingezeichnete Landstraße zeigte. Die Situation spitzte sich dramatisch zu, als die für die Orientierung zuständige Beifahrerin behauptete, man befinde sich mitten in einem menschenleeren Waldgebiet, obgleich sich draußen vor der Windschutzscheibe gerade das Panorama einer wachturm- und stacheldrahtbewehrten Militäranlage der NVA entfaltete. Das Wort "dämlich" fiel.Eine Rehabilitierung der Spezies Beifahrerin erfolgte erst, als im Juni 1990 der Direktor des VEB-Tourist-Verlags, Reginald Pustkowski, öffentlich gestand, auf Geheiß staatlicher Stellen jahrzehntelang Straßen- und Stadtkarten durch gezielte Verzerrungen in der Darstellung verfälscht zu haben. Auch Helmut Langer, Leiter der Kartenredaktion im Gothaer Haack-Verlag, gab solche Praktiken zu. Weitgehend unbekannt blieb bis heute, dass die DDR nicht nur Karten für Touristen (auf denen die "BRD" und "West-Berlin" zur Erschwerung der "Republikflucht" nicht dargestellt waren) frisierte, sondern auch die offiziellen topographischen Kartenwerke. Mit einem Forschungsprojekt und einem Workshop für Kartografen, Geodäten, Archivare und Historiker versuchte die Gauck-Behörde in Kooperation mit der "Museumsstiftung Post und Telekommunkation" vergangene Woche in Berlin, die Konturen des DDR-Kartenwesens wissenschaftlich nachzuzeichnen. Das Ergebnis: Bevölkerung, Wirtschaft und Wissenschaft der DDR sind jahrzehntelang systematisch mit verfälschten topographischen Landkarten irregeführt worden. Das ins Absurde gesteigerte militärische Geheimhaltungssystem erschwerte den vernünftigen Gebrauch der für ein Industrieland unentbehrlichen Planungsunterlagen.Ausgabe für die VolkswirtschaftDie Ost-West-Auseinandersetzung und die Einbindung der beiden Teile Deutschlands in die verfeindeten Militärblöcke führte dazu, dass die DDR 1953 von der Sowjetunion ein mit dem Westen inkompatibles geodätisches Netz ("System 42") einführte. Dies wies unter anderem eine andere Breite der Meridianstreifen auf. Übernommen wurde auch die rigide sowjetische Sicherheits- und Geheimhaltungsdoktrin: "Die Genossen in Moskau erwarteten, dass sich die DDR als der am weitesten westlich gelegene Staat des Warschauer Paktes in besonderem Maße an die in der UdSSR praktizierte Geheimhaltung halte", heißt es in einer Akte aus dem Jahr 1958, die Roland Lucht bei dem Workshop vorstellte. Lucht ist Mitarbeiter der Karten-Projektgruppe um die Historikerin Dagmar Unverhau in der Gauck-Behörde. Das bedeutete: An der Geheimhaltung topographischer Karten und des "Systems 42" war nicht zu rütteln. Dabei ging es den Sowjets besonders um das Koordinatensystem, weil sie vermuteten, dass der Westen es für die Zielprogrammierung von Raketen brauchte. Als eine Art Kompromiss mit den wachsenden Bedürfnissen der zivilen Wirtschaft nach aktuellem Kartenmaterial wurde bei der "VII. Konferenz der Vertreter der Geodätischen Dienste der sozialistischen Länder" 1965 jedoch die Möglichkeit eingeräumt, für die sozialistischen Volkswirtschaften ein eigenes Kartenwerk zu schaffen, aus dem man militärisch verwendbare Informationen entfernte. Auf dieser Basis verfügte der Nationale Verteidigungsrat der DDR am 13. Oktober 1965 die Schaffung einer neuen Kartenserie "Ausgabe Volkswirtschaft" (AV). Sie unterschied sich von der militärisch genutzten, später "Ausgabe Staat" (AS) genannten Version laut Vorschrift dadurch, dass "vertrauliche Angaben wie einheitlicher Blattschnitt, geodätische Netze, Trigonometrische Punkte, Qualitäts- und Quantitätsangaben entfernt sind". Dazu zählten etwa Angaben über Straßenbreiten oder die Tragfähigkeit von Brücken. Zusätzlich wurde für diese AV-Karten ein eigenes, von den AS-Karten unterschiedliches örtliches Koordinatensystem eingeführt. So wollten die Behörden verhindern, dass jemand aus den AV-Karten auf die Koordinaten in AS-Karten schließt. Zentral zuständig für die Durchführung dieser Anordnungen war die "Verwaltung Vermessung und Kartenwesen" (VVK) im Ministerium des Innern, die in Kooperation mit dem "Militärtopographischen Dienst" (MTD) die AV-Karten erstellte. Bis zum Ende der DDR, fand Lucht heraus, wurde von diesen Stellen in 185 Vorschriften und Redaktionsanweisungen penibel verfügt, wie das Landschaftsbild der DDR darzustellen sei. So verschwanden komplette Flugplätze und Kasernenanlagen vom Kartenbild (siehe Abbildungen), mitten aus Dresden sogar der allgemein bekannte Flughafen Dresden-Klotzsche. Die Chemieanlagen in Schkopau waren von den angrenzenden Wohnhäusern nicht mehr zu unterscheiden. Auf einer Karte wurden Gebiete an der Grenze zur Bundesrepublik in einer Breite bis zu 3,5 Kilometern einfach weggelassen. Festpunkte wie Kirchen und Türme, die der Orientierung dienen konnten, wurden, wie es die Vorschriften vorsahen, "sinnvoll" um einige Millimeter versetzt eingezeichnet. Zu ähnlichen Erkenntnissen wie die Gauck-Forscher kam der Kartografiehistoriker Wolf G. Koch von der Technischen Universität Dresden. Die Auswirkungen für die DDR-Volkswirtschaft, wo genaue Karten für die Industrieprojektierung, die Raum- und Verkehrsplanung oder die Hydrogeologie gebraucht wurden, waren fatal: "Ein Betrieb aus der Energieversorgung konnte zum Beispiel seine Gasleitungen nicht korrekt einzeichnen, weil in der AV-Karte Trigonometrische Punkte für die Vermessung verschoben waren", berichtet ein früherer DDR-Kartograf. "Ähnliche Probleme hatten zum Beispiel Brunnenbohrbetriebe." Die Betriebe halfen sich teilweise damit, dass sie auf verstaubte Karten aus der Vorkriegszeit zurückgriffen. Obendrein waren die AV-Karten als "Vertrauliche Dienstsache...
Hier kann man weiterlesen:
– Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/16216976 ©2017
Gruß Volker