Ärgert sich der Deutsche, schreibt er Briefe. Die meisten Protestschreiben in und aus der DDR landeten bei der Stasi - ein Mosaik des Alltagsfrustes. Der Politologe Siegfried Suckut sucht die Absender.
Die DDR-Bürgerin machte sich große Sorgen. Sie sah die Gesundheit der Bevölkerung in Gefahr: wegen dieses miesen Kaffees. Im September 1977 wandte sie sich mit einem Brief an den Moderator des DDR-Wirtschaftsmagazins "Prisma":
"Sehr geehrter Dr. K.-H. Gerstner! ... Ich bin Verkäuferin und höre mir jeden Tag die Klagen von den Kunden an. Ich bin selbst der Meinung, daß der Kaffee Mix zu 6,-M nicht zu genießen ist. Er ist das reinste Rattengift. Ich bitte Sie, daß der Betrieb in aller Öffentlichkeit Stellung hier nimmt. Der Kaffee Mix besteht aus Malzkaffee u. einigen Körnchen Bohnenkaffee. So ein Kaffee brauchen wir nicht im Handel. (…) Die Firma möchte doch bitte den "Kosta" weiter im Handel gehen lassen. Der Betrieb ist VEB Kaffee Halle. Der Betrieb möchte dieses Rattengift aus dem Handel nehmen. Ansonsten werden uns die Intelligenz und der Arbeiter sehr krank, (…) Ich danke ihnen im Voraus. Mit sozial. Gruß ..."
Fernsehmoderator Karl-Heinz Gerstner konnte das DDR-Kaffee-Problem nicht lösen. Steigende Kaffee-Weltmarktpreise und chronischer Devisenmangel im Arbeiter- und Bauern-Staat waren die Gründe für die billige Ersatzmischung. Vom Unmut der Verkäuferin erfuhr der Hersteller freilich nie. Denn statt bei der Wirtschaftssendung landete der Brief in den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS).
So erging es auch Tausenden anderen Schreiben, die DDR-Bürger ab Mitte der Sechzigerjahre an ihre Staatsspitze, an Parteifunktionäre oder auch an westliche Politiker und Medien richteten - sei es anonym oder mit vollem Namen unterzeichnet, in Erwartung einer Antwort. Denn die Stasi sammelte keineswegs nur Dokumente, die eine oppositionelle Haltung zur DDR-Führung vermuten ließen. Im Archiv der 1964 gegründeten Hauptabteilung XX, zuständig für "Verhinderung, Aufklärung und Bearbeitung staatsfeindlicher Erscheinungen", lagern auch umfangreich ausgearbeitete Verbesserungsvorschläge wohlmeinender Genossen, ebenso Post an Radio- und Fernsehsender und sogar von Bundesbürgern an DDR-Medien.
Nur selten erreichten diese Briefe ihre Adressaten - was die Absender vielleicht bis heute nicht ahnen. Der Politologe Siegfried Suckut, langjähriger Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde, hat sie gelesen: 200 Akten, etwa 45.000 Blatt Papier. Einen Teil davon macht er nun der Öffentlichkeit zugänglich und hat knapp 250 Briefe in seinem neuen Buch "Volkes Stimmen" versammelt. Die faszinierende, bisweilen kuriose Lektüre gibt Einblick in den Alltag deutscher Briefeschreiber - und in die Sammelwut der staatlichen Überwacher.
Weitere Beschwerdebriefe hier:
http://www.spiegel.de/einestages/was-dd ... 77617.html
Heute schmunzeln wir vielleicht drüber, aber damals machte es die Bürger sicher wütend.