Alltag Leuna 1986

Alltag Leuna 1986

Beitragvon CaptnDelta » 27. Mai 2010, 08:42

Peter Lorenz, Ausschnitt aus "Blinde Passagiere im Raum 100" (Leipzig 1986)

Alltag Leuna 1986

leuna.jpg
Guy Neumann ging durch einen dichten, dicken Winternebel, der nach Rauch und nach Ruß und nach Staub schmeckte, wenn man ihn durch den Mund einatmete, der sich als Rauhreif am Oberlippenbart festsetzte und die Barthaare miteinander zu Eisdolchen verklebte. Guy Neumann ging nicht allein. Seit er den überheizten Vorortzug verlassen hatte, tappten rechts und links neben ihm gleichfalls vermummte Gestalten durch den Morgen. Aber der Nebel dämpfte selbst die Geräusche der Schritte. Neumann hatte das Gefühl, völlig allein zu sein auf dieser Welt.

Er ging jedoch in einer scheinbar endlosen Menschenschlange, und die Luft war derart, daß die Auswärtigen sich längst ihre Sauerstoffmasken übergestülpt hätten.

Guy Neumann rang nach Luft, und die Bitterkeit des Rußes bereitete ihm Übelkeit. Seine Augen tränten, und er war versucht, nach seiner Sauerstoffmaske zu greifen. Doch er hätte sich mit diesem Griff als Fremdling ausgewiesen, und Neumann legte zur Zeit auf nichts größeren Wert, als einer unter Tausenden zu sein, die sich langsam, aber unaufhaltsam dem Werktor und damit ihrer täglichen Schicht zubewegten. Endlich tauchte aus dem Nebel das hell beleuchtete Werktor auf. Die Menschen um ihn herum griffen in ihre Taschen und präsentierten dem Werkschutzmann ihre Betriebsausweise. Das alles geschah rein mechanisch. Selbst der ungeschickteste Fälscher hätte mühelos seinen Erfolg einfahren können bei solcherlei Kontrolle.

Guy Neumann blieb vor dem Mann vorn Werkschutz stehen. Er konnte sich anzugleichen versuchen, wie immer er wollte, in einem unterschied er sich heute von seinen Kollegen. Sein Ausweis war neu, die in der Aktentasche verstaute Montur war neu, er hatte den Weg durch dieses Werktor noch nie vorher genommen."Ich bin neu hier", sagte er, "ich muß nach Z 117. Die Kaderabteilung sagte mir gestern, ich solle mich zu Schichtbeginn bei Ihnen melden." Der Werkschutzmann nickte, drehte sich um, öffnete das Barackenfenster und rief in die Wachstube: ¯Ein Neuer nach hundertsiebzehn! " Inzwischen hatten mindestens zwanzig Leute die Wache passiert, ohne daß ihre Ausweise auch nur eines einzigen Blickes gewürdigt wurden. Ein zweiter Uniformierter kam aus der Wachstube, knöpfte seinen langen Mantel zu und sagte zu Guy Neumann: "Sind Sie das, der nach Z hundertsiebzehn? Das dauert aber seine Zeit! "

Der Wachmann maß fast zwei Meter, und Guy hatte Mühe, seinen raumgreifenden Schritten zu folgen. "Z hundertsiebzehn ist ja auch nicht gerade das große Los", sagte der Uniformierte. "Kann mir jedenfalls angenehmere Arbeit vorstellen. Aber das muß schließlich jeder selbst entscheiden! " - "Denke ich auch", antwortete Neumann und schritt voran. Sie liefen neben einer Rohrbrücke, und ab und zu tropfte ihnen Flüssigkeit auf Kopf und Kleidung. "Seien Sie im Werk unter Rohren immer ein bißchen vorsichtig", riet der Begleiter und zog Neumann ein paar Meter zur Seite. "Ist hier nämlich nicht alles Wasser, was heraustropft, Kollege. Man hat sich da ganz schnell ein häßliches Loch in den guten Anzug geätzt!"

Radfahrer tauchten aus dem Nebel auf und verschwanden wieder. Irgendwo, nah oder fern, pfiff eine Werklok. Der Weg nach Z 117 schien kein Ende nehmen zu wollen. "Haben Sie schon einmal in einem Chemiebetrieb gearbeitet?" fragte der Werkschutzmann. Im Grunde interessierte ihn Neumanns Antwort nicht, aber die gesamte Strecke nur zu schweigen ging schließlich auch nicht.

Aus einer geöffneten Werkhalle schlug ihnen ein Schwall warmer, trockener, nach Schwefelwasserstoff stinkender Luft entgegen. "An dieser Ecke riecht es immer so", sagte Guy Neumanns Begleiter. "In ein paar Wochen finden Sie den Weg allein nach dem Geruch. Hier gehen fast alle ihrer Nase nach. Und wenn Sie Staub in die Augen bekommen haben, daß Sie ja nicht anfangen zu wischen! Aber das wird Ihnen Ihr Meister noch alles sagen. So, dort ist es, Z 117!"

Das Gebäude Z 117 entpuppte sich als ein Bau, dessen Tage gezählt zu sein schienen. Das Mauerwerk war brüchig, die Risse konnte man selbst im morgendlichen Dunst gut erkennen. Die Tür hing windschief in den Angeln und ließ sich nicht mehr bewegen. Das Gebäude Z 117 konnte deshalb nicht einmal verschlossen werden. Aber das war auch nicht nötig, denn in Z 117 wurde rund um die Uhr gearbeitet, und wer in dieses Gebäude einzubrechen versucht hätte, der war entweder volltrunken oder hatte sich verlaufen oder war simpel ein Idiot. Außer Dreck, Wasser und Gestank gab es nichts, aber auch gar nichts zu holen. Weshalb sich auch eine verschließbare Tür erübrigte.

In der Meisterkabine klebten schmuddlige Aktfotos an den Wänden. Die Mädchen blickten traurig auf einen überquellenden Aschenbecher. Die Bezeichnung Luft war für das Gemisch aus Rauch und Kohlendioxid eigentlich übertrieben. Aber den Menschenschlag in der Chemieindustrie haute so rasch nichts um, abgestandener Zigarettenrauch schon gar nicht. Wenigstens war es warm. Eine Wärme, in die man nach der feuchten Smogkälte eintauchte wie in ein Duschbad. Eine Wärme, die schläfrig machte und die den kalten Nebel draußen vergessen ließ.

Die Meisterkabine war leer. Der Werkschutzmann setzte sich auf einen altersschwachen, knarrenden Stuhl und streckte seine langen Beine weit in den Raum. "Sie können sich ruhig setzen", sagte er zu Guy Neumann. "Der Meister muß jeden Augenblick kommen. Und ohne den läuft hier sowieso nichts."

Der Meister war klein und korpulent und hatte bereits am frühen Morgen einen hochroten Kopf. "Jetzt kommt ihr mir auch noch in die Quere", sagte er und wühlte hektisch in den Papieren, die sich auf seinem Schreibtisch türmten. "Ich bringe Ihnen bloß einen Neuen", sagte der Werkschützer und stand auf. "Weiß ich doch längst, daß ein Neuer kommt", entgegnete der Meister und gab Neumann die Hand. "Neumann", stellte sich Guy Neumann vor.

"Neumann?" Der Meister überlegte. "Also ich war felsenfest der Meinung, die von der Kaderabteilung hätten Meier gesagt. Aber die sagen viel, wenn der Tag lang ist. Kommste aus'm Knast?" Neumann antwortete nicht. "Brauchste dich hier nicht zu genieren. Sind meine besten Leute, die aus'm Knast kommen. Arbeiten hammse drinnen gelernt. Und bleiben wenigstens hier. Na ja, wo wollnse auch noch hin! Wer seine Jahre im Knast abgebrummt hat, der taugt am besten für hier. Neumann also!"

Quecksilber, dachte Guy Neumann. Der ganze Mann scheint aus Quecksilber zu sein. Den tippt man mit dem Finger an, und schon läuft er aus. Was ihn an diesem Vergleich noch interessiert hätte, Quecksilber war giftig. Das echte zumindest.

"Gearbeitet haste in so'ner Abteilung noch nich?" Neumann schüttelte verneinend den Kopf. "Lernste schnell. Schaufel brauchste und Besen und Wasserschlauch. Mehr brauchste nicht. Und 'ne gute Nase brauchste. Die muß flattern, wenn's nach Bittermandel zu duften beginnt. Oder wenn die Zigarette plötzlich süß schmeckt. Dann isses nämlich Zyan, dann mußte raus hier, Neumann oder Meier, so schnell dich deine Füße tragen!"

Neumann-Meier hörte ohne jede Regung zu. "Bei uns tut nämlich der ganze Dreck durchfließen", fuhr der Meister fort. "Anderen Abteilungen die feinen Fläschchen und die sauberen Plastbeutelchen, uns die Scheiße. So ist das mit der Abteilung Z hundertsiebzehn. Bei uns kommen die Abwässer aus dem ganzen Betrieb an, wir geben die entsprechenden Fällungschemikalien zu und sammeln die Niederschläge ein. Und deine Aufgabe wird es sein, zwei Dutzend FälIungsbottiche fit zu halten, mit Wasser, Schaufel und Besen. Verstanden?" Guy Neumann nickte.

"Dann kann's ja losgehen", stellte der Meister zufrieden fest, sprang auf, rieb sich die Hände, drehte aber gleich danach auf dem Absatz wieder um, baute sich dicht vor dein neuen Kollegen auf und fragte: "Aus welchem Knast kommste denn nun eigentlich? Warste lange drin? Hast vielleicht sogar...?" Seine begleitende Handbewegung war eindeutig. "Mußte mir demnächst erzählen", fuhr der Meister Quecksilber fort, nachdem Neumann abermals keine Antwort gegeben hatte. "sammle nämlich solche Geschichten. Bin ganz verrückt danach. War selber nie drinnen, weißte, aber Wärter kenn ich, Erzieher sagt man jetzt wohl, so gut kennen die sich selber nich, glaub mir! Und irgendwann schreib ich's auf, kannste glauben! Aber jetzt machen wir erst mal den Arbeitsschutz. Unterschreib mal!"

Während Guy Neumann ein abgegriffenes, schmutziges Heft zugeschoben bekam, begann Meister Quecksilber mit seiner Belehrung: "Also, Schutzhelm mußte tragen, keinen schritt ohne Schutzhelm verstehste und gleich nach dem helm die handschuhe alles säure oder sonst ätzend auf jeden fall holste dir einen saftigen ausschlag und wenn du an bottich neun arbeitest möchte ich dich niemals ohne säureschild erleben und den lebensretter immer schön am gürtel und s0pritzer in den augen machste mit wasser weg und nie wischen! Alles klar? Oder haste noch fragen?"

Die Gummistiefel waren Fischerstiefeln nachempfunden und drückten in die Weichen. Die Handschuhe mußten in Schulterhöhe umgekrempelt we0rden. Der hellgraue Säureschutzanzug war steif und luftundurchlässig. Der Säureschild wurde durch ein Kopfband vor dem Gesicht gehalten und drückte an die Stirn.Der Selbsttretter, eine graue, runde, ziemlich schwere Blechbüchse, hing an einem breiten Gürtel und schlug bei jedem Schritt an den Oberschenkel.

"Siehst zünftig aus, Mann", sagte Meister Quecksilber und drückte dem Neuen einen breiten Besen und eine riesengroße Schaufel in die Hand. "Dann wolln wir mal!"

An den Bottichen war es eiskalt. Das Wasser stand zentimeterhoch und tropfte von der Decke und den Bottichwänden."Hier oben ist deine Arbeitsbühne", schrie der Meister gegen das allgegenwärtige Geräusch von strömendem Wasser und zischendem Dampf an. "Die Brühe kommt an, du kriegst vom Labor deine Menge von Zusatzstoffen die läßt du möglichst gleichmäßig aufs Abwasser rieseln, soundsoviele Kilo pro kubikmeter und achtest darauf daß die Schlämme unten sauber aufs band schmieren. Manchmal setzt sich nämlich was fest, und dann mußte ganz schnell sein, mit der Schaufel, weißte, sonst ist die ganze Kacke dicht, und dann hammern Salat. Klar also?"

Eine Stunde später wußte Guy Neumann nicht mehr, ob er fror oder schwitzte, ob er männlichen oder weiblichen Geschlechts war, ob draußen Sommer oder Winter regierte, ob Tag oder Nacht herrschte. Ständig setzten sich die zähen grauen Schlämme am Bottichauslauf fest, und wenn er ungeschickt mit der Riesenschaufel hantierte, spritzten die Abwässer auf ihn ein, liefen ihm in den Kragen, unter den Schutzanzug, in die Stiefel. Nichts, was ihn vor der allgegenwärtigen stinkenden Nässe schützte, nicht eine Minute Ruhe.

Erst nach drei Stunden zeichnete sich eine Änderung ab. Von einer Art freilich, wie sie Neumann nicht erwartet und Meister Quecksilber sie ihm wohlweislich nicht erklärt hatte. Der hielt es überhaupt für besser, nicht zu viel zu erklären. Die Männer stutzten sich selbst schon zurecht. Das hatte ihnen der Knast beigebracht. Die wußten, weshalb und wohin der Hase lief und daß es allemal besser war, den Kopf als den Arsch oben zu behalten. Allemal!

Bisher hatte Guy Neumann keine Gelegenheit gefunden, seine neuen Kollegen von Z 117 zu begrüßen. Ein flüchtiger Wink mit der Hand war das einzige Zeichen gewesen, das er mit der Gestalt auf der benachbarten Arbeitsbühne ausgetauscht hatte. Und dieser Mann stand plötzlich über ihm und schloß den Zulauf für das Fällungsmittel."Willst dir wohl die Beine ausreißen, was?" schrie der Mann hinunter zum Fällungsbottich. Nachdem der Zustrom des Fällungsmittels aufhörte, floß der Schlamm ruhiger und gleichmäßiger auf das Förderband. "Und jetzt stellste den Zulauf so ein, daß das Band ordentlich läuft", schrie der Kollege und drehte das Handrad vorsichtig wieder auf. "Willst schließlich auch mal Zeit für 'ne Zigarette haben, oder?"

Guy Neumann war inzwischen wieder auf seine Arbeitsbühne geklettert. Die beiden Männer gaben sich die Hand. Der andere rauchte trotz seiner Handschuhe eine Zigarette, und die war pulvertrocken. Neumann dagegen tropfte von Kopf bis Fuß."Machst dich doch fertig, Mann! Da hat dich der Alte ganz schön angeschissen! Also, Fällungsmittel immer nur so viel, wie Schlamm vom Band transportiert werden kann, okay?" "Und die Laborwerte?" - "Vergessen! Hauptsache, es läuft! Holzauge, sei wachsam!"

Etwa ein Drittel der vom Labor austitrierten Fällungsstoffe vermischte sich mit den Abwässern. Das Band transportierte eine gleichmäßige Schlammschicht ab. Eine Stunde lang hatte Neumann jetzt relativ ruhige Arbeit. Da floß also das Abwasser nahezu unbehandelt ab, weil die Anlage für eine ordnungsgemäße Fällung viel zu klein und noch dazu technisch total veraltet war. Da griffen die Kollegen von Z 117 notgedrungen zur Selbsthilfe und fällten nur noch jenen Teil aus, der auch von den Bändern bewältigt werden konnte ...

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..Totalitarianism does not mean that such regimes in fact exercise total control over their people, it means rather that such control is in their aspiration.
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Re: Alltag Leuna 1986

Beitragvon Berliner » 27. Mai 2010, 08:56

Der Grundstein für die Leuna-Werke wurde bereits 1916 gelegt. Die "Interessengemeinschaft Farbenindustrie", besser unter dem einfachen Kürzel "IG-Farben" bekannt, wollten in Leuna Stickstoff herstellen. Stickstoff brauchte man für Düngemittel, aber mehr noch für die Sprengstoffproduktion. Neben den Leuna-Werken gehörten BASF, Bayer, Agfa und die Hoechst AG bis zur Zerschlagung 1945 zum IG-Farben-Konzern.
Am Standort entstand ein Chemiebetrieb um den anderen. 1989 wurde so ziemlich alles gefertigt, was nach Chemie klingt: Vom Erdöl-Raffineriebetrieb zur Gewinnung von Kraftstoffen über die Herstellung von beispielsweise Salicylsäure, dem Grundstoff einer ganz bekannten Kopfschmerztablette aus Leverkusen, bis hin zu Klebern und Plaste. Die Produkte wurden in aller Herren Länder inklusive dem NSW exportiert.

An dem bedeutendsten Chemie-Standort der DDR beschäftigte der Industriegigant, das VEB Leuna-Werke "Walter Ulbricht", bis zu 40.000 Werktätige. Diese wurden mit eigens bei der Deutschen Reichsbahn gemieteten Zügen aus dem Einzugsgebiet zu den beiden werkseigenen Bahnhöfen "Leuna-Nord" und "-Süd" gebracht. Das Gesamtgelände erstreckte sich auf eine Länge von ca. sieben Kilometern und eine Breite von drei Kilometern. Für die Energieversorgung der Betriebe sorgten sieben werkseigene Kraftwerke. Im Werk selbst gab es eine stündlich verkehrende Buslinie, eine Berufsschule, eine Poliklinik, eine Fahrradwerkstatt, einen Fußballclub, ... und allein vierzehn Kantinen waren nötig, um die arbeitenden "Leunesen" Tag und Nacht mit Essen zu versorgen.

Zum Kombinat VEB Leuna-Werke "Walter Ulbricht" gehörten weitere, entfernt liegende Standorte. So kam beispielsweise das bekannte Geschirrspülmittel "fit" aus dem Betriebsteil in Hirschfelde.


Quelle: http://www.ddr-wissen.de/wiki/ddr.pl?VE ... r_Ulbricht
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Re: Alltag Leuna 1986

Beitragvon augenzeuge » 27. Mai 2010, 12:03

Ein DDR-Zeitzeuge über Leuna in den 60er Jahren:

Als ich aus einem kleinen muffigen Maschinenbaubetrieb in Thüringen 1965 als Dreher nach Leuna kam, erfuhr ich das erste mal deutlicher, was Solidarität ist. Während in meinem ehemaligen Lehrbetrieb eifersüchtige Statuserhaltung das Systemprinzip der Facharbeiter untereinander war, in das man höchstens mal einheiraten könnte, zählte in Leuna das, was man leistete und in einem halben Jahr hatte ich die Lohngruppe zu der ich in Thüringen 10 Jahre gebraucht hätte.

Kein Geheimnis war, dass die Kollegen vom Bau 15 am 17. Juni das Tor zugeschweißt hatten, und darauf waren sie stolz. Es gab eine klitzekleine SED-Parteigruppe im Betriebsteil, die nur veralbert wurde.

Das Sagen hatte die Gewerkschaftsorganisation. Egal, ob Arbeitsbedingungen oder Lohngruppeneinstufung: Hier flogen bei Gewerkschaftsversammlungen die Fetzen, und es wurden gute Ergebnisse für die Mitarbeiter erzwungen. Diese Abteilung brachte Spitzenleistungen und die übliche DDR-Gammelei war absolut verpönt. Materialengpässe gab es natürlich auch, wie überall in der DDR. Ich hatte aber immer den Eindruck, dass es hier weniger gab. Eine ausgefeilte Organisation bügelte diese Engpässe im Übrigen auch aus. Standzeiten der Maschinen gab es nicht. Stand die Maschine doch einmal, gab es auch keinen Lohn. Innerhalb weniger Monate erhielt ich eine billige nagelneue Betriebswohnung und konnte mich durch Unterstützung meiner Kollegen in der Abendschule auf ein Studium vorbereiten. Alle waren in der freiwilligen Betriebsfeuerwehr, und als die Benzinspaltanlage 1965 in die Luft flog, waren sie die ersten, die den Brand danach eindämmten, ehe die Betriebsberufsfeuerwehr anrückte.

Meine ehemaligen Kollegen in Thüringen dachten, ich tische ihnen Märchen auf, als ich ihnen erzählte, in Leuna gäbe es mehrere Betriebskantinen mit täglich wechselnden 10 Gerichten, zum Frühstück Rührei, heiße Boullion, Suppen und Pudding. In der Nachtschicht gäbe es auch warmes Kantinenessen und "gestern habe ich gebackene Forelle gegessen und vorgestern Hasenbraten". Es gab Bäderbetriebe mit hellen sauberen Dusch- und Waschräumen, Turnschuhe für den Einsatz an Großdrehmaschinen, Waschmittel und Handtücher umsonst, im Betrieb und um den Betrieb einen tadellosen Werksverkehr, Fahräder in den Hallen und eine Arbeitsorganisation wie bei den IG-Farben vor dem Krieg. Schwimmbäder , Kegelhallen, Kinos, Werksbibliotheken, Betriebskindergärten, Ferienheime, Ruderboote, Segelboote. Wer arbeitsgeil war, konnte Überstunden machen, wer das nicht wollte, ließ es bleiben.

Der stolz präsentierte Lohnstreifen und eine Werksbroschüre hatten dann das Ergebnis, dass noch drei junge Kollegen später kündigten. Einen kleinen Schmu hatte ich aber doch noch gemacht. Auf meinem Lohnstreifen war die Abrechnung von ein und einem halben Monat. Mit der dazugehörigen Auslösung hatte ich soviel Lohn wie das Gehalt meines ehemaligen Werkleiters.

Als ich dann studieren wollte, benötigte ich eine Delegierung des Betriebes. Die Parteigruppe belatscherte mich, in die Partei einzutreten, um die Delegierung zu erhalten. Ich habe einen Antrag auf Aufnahme in die SED gestellt und dies meinen Kollegen erzählt. In der darauf folgenden Nachtschicht standen die Maschinen einige Stunden, und ich wurde ideologisch richtig rund gemacht. In der darauf folgenden Woche zog ich meinen Antrag zurück. Die Delegierung haben mir dann meine Kollegen über die Gewerkschaftsgruppe im Bunawerk
besorgt, wo ich keinen Segen der SED benötigte.
(aus ddr-zeitzeugen.de)
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