War der Arbeitsschutz bei Strafgefangenen wesentlich schlechter als bei den Zivilarbeitern?
Nimmt man die Häufigkeit von Arbeitsunfällen als Maßstab für die tatsächliche Einhaltung der gesetzlichen Arbeitsschutzbestimmungen, so ist davon auszugehen. Aus dem gesamten Untersuchungszeitraum gibt es nur vereinzelte Statistiken, die wegen unterschiedlicher Zählweisen nur bedingt mit den Unfallziffern für die zivilen Betriebe vergleichbar sind. Ihnen zufolge lag die Unfall-häufigkeit bei Strafgefangenen um ein knappes Drittel bis zum Doppelten und Dreifachen über jener der zivilen (Industrie-)Arbeiter.358 Die einzige verfügbare DDR-Statistik, die ausdrücklich die Häufigkeit von Arbeitsunfällen in der Haft mit jenen im zivilen Bereich vergleicht, stammt aus dem Jahr 1989 und enthält Angaben für das Jahr 1987: „1182 Arbeitsunfälle, 41 schwere, 2 mit tödlichem Ausgang (liegt weit über AU [Arbeitsunfällen] der Volkswirtschaft ....)“.359 Wenn selbst 1987, nach über 30 Jahren Häftlingsarbeit in den Gefängnissen, die Unfallquote in Haftbetrieben signifikant höher als in Zivilbetrieben war, handelte es sich um ein strukturelles Problem. Dabei dürfte es sich lediglich um die Untergrenze der Gesamtzahl aller Arbeitsunfälle im Jahr 1987 gehandelt haben, denn die Statistik erfasste nur die meldepflichtigen Vorkommnisse. Obendrein kamen die AEB dieser Pflicht häufig nicht nach und es ist ferner zu berücksichtigen, dass die Dunkelziffer der nichtmeldepflichtigen Unfälle erheblich war.
Besonders häufig erlitten die Gefangenen Verletzungen der folgenden Art: Quetschungen der Finger oder Zehen, Schnittwunden, Knochenbrüche, Gehirnerschütterungen, durch Stanzen oder Sägen abgetrennte oder schwer verletzte und deshalb amputierte Gliedmaßen, Augenverletzungen, Stromschläge sowie Vergiftungen durch Chemikalien. Das bereits zitierte Papier von 1989 nannte als Unfallursachen „u.a. mangelnde Bildung, Qualifik[ation]“ der Strafgefangenen. Tatsächlich traf dies in vielen Fällen zu, wie es Unfallmeldungen aus den achtziger Jahren nahelegen. Die Strafgefangenen verunglückten u.a. deswegen, weil ihnen eine nur kurze Eingewöhnungszeit zugestanden wurde und mit ihrer Unerfahrenheit die Unfallgefahr anstieg. Nicht unerheblich war auch grobe Fahrlässigkeit wie bei jenem Gefangenen, der aus einer laufenden Kreissäge Holzreste entfernen wollten und sich dabei zwei Finger absägte, Ungeschicklichkeit wie bei jenen, denen schwere Gegenstände beim Tragen oder Heben entglitten und auf den Fuß fielen – wobei die Häufigkeit derartiger Unfälle zugleich auf unzureichende Transporthilfsmittel hindeutet, oder schlicht törichtes Verhalten wie bei jenem Gefangenen, der sich in der Maxhütte Unterwellenborn „beim Aufwärmen zu nahe an glühendes Walzmaterial“ gestellt hatte, worauf seine Kleidung Feuer fing und er schwere Verbrennungen an den Beinen erlitt. Allerdings war für den Faktor „Unaufmerksamkeit“ auch die Übermüdung der Häftlinge ursächlich.Ferner ist in dem oben zitierten MfS-Papier von der „Nichteinhaltung [des] Arbeitsschutz[es]“ als Unfallursache die Rede, was allerdings nichts darüber aussagt, ob die Strafgefangenen oder der Betrieb für die Nichteinhaltung verantwortlich war und aus welchem Grunde Schutzbestimmungen nicht eingehalten wurden. Die Unfallmeldungen deuten jedenfalls darauf hin, dass in vielen Fällen Schutzmittel fehlten. So verletzten sich etliche Gefangene in AEB der Fleischverarbeitung, weil sie mit dem Messer abrutschten und sich in die Hand schnitten, was mit Kettenhandschuhen nicht hätte passieren können, in anderen Fällen waren keine Schutzbrillen getragen worden, entweder weil nicht vorhanden oder aus Nachlässigkeit, sodass Strafgefangene schwere Augenverletzungen erlitten, beispielsweise durch Drahtteile aus einer mit Pressluft betriebenen Entrosterbürste im VEB Warnowwerft Rostock-Warnemünde.
Mehr Details zum Arbeitsschutz erfährt man ab der Seite 81 im nachstehenden Link:
https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Downlo ... onFile&v=1