Die deutsche Nation
1. Teil
Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, die tragende Dachorganisation in Deutschland, war kein Nationalstaat im modernen Sinn, sondern ein mittelalterlich strukturierter Herrschaftsverband. Die Reichsnation, die den Kaiser wählte und sich auf dem Reichstag versammelte, wurde von den Fürsten dominiert und repräsentiert. Diese jedoch betrieben seit dem Spätmittelalter eine eigene territoriale Staatsbildung gegen die Interessen des Reiches.
Die Entwicklung einer bürgerlichen Nation vollzog sich parallel zu diesem Prozeß und stand ihm gegenüber: während sich hier ein überstaatliches, nationales Bewußtsein bildete, lief die adelige Staatsbildung auf einen Zerfall des Reiches hinaus. Grundlage der neuen Nationsbildung war die deutsche Kulturgesellschaft der gebildeten Schichten. Diese übergreifende Identitätsbildung war zunächst nur kulturell und gesellschaftlich, während die politische Identität ganz auf die Territorialstaaten hin orientiert war. Einzelstaatliches Reformengagement und kulturnationale Orientierung standen nebeneinander, (politischer) Landespatriotismus und (kultureller) Reichspatriotismus ergänzten sich. Mitten in diese Phase der noch vielfach offenen nationalen Selbstfindung wurden die Deutschen in Mitteleuropa 1789 durch den Nachbarn Frankreich mit dem Modell des modernen Nationalstaats konfrontiert. Trotz späterer Enttäuschungen und innerer Abwehr angesichts der französischen Kriegserklärung 1792 und des innenpolitischen Terrors in Frankreich hatte die französische Revolution starke Wirkungen auf die Prägung des politischen Bewußtseins der deutschen bürgerlichen Bildungsschichten.
In den langwierigen Kriegen mit der französischen Republik, in den Friedensverhandlungen von Basel (1795) bis Lunéville (1801) wurde deutlich, daß das alte Deutsche Reich weder zur Verteidigung seiner Grenzen noch zu einer Modernisierung seiner Verfassung in der Lage war. Die Fürsten hatten allein ihre eigene Zukunft im Auge und konzedierten dem Annektionismus des direktorialen Frankreich das gesamte linksrheinische Reichsgebiet, Deutschlands nationalpolitische Zukunft lag im Dunkeln. Während dieser Zeit befand sich die deutsche Kulturgesellschaft, d.h. die junge bürgerliche Nation, auf dem Höhepunkt ihrer wissenschaftlichen und kulturellen Produktivität, wodurch sie die widersprüchliche Situation ihrer geistigen und ihrer politischen Existenz um so stärker empfand. Die fortschreitende Politisierung der bürgerlichen Nationalbewegung führte auch zum Ende ihrer gemeinsamen reformpolitischen Orientierung im Geist der Aufklärung: es entstand ein konservativer Reichspatriotismus mit nationalistischen Tendenzen neben den deutschen Jakobinern, die die französische Sache vertraten, und der liberalen Mehrheit.
Schließlich wurde Napoleon Bonaparte, der vom republikanischen Heerführer zum Kaiser der Franzosen aufstieg, die dominierende Gestalt für das nationale Schicksal Deutschlands. Er verstand es als erster, die Ideologie der modernen Nation lediglich funktional und propagandistisch zu gebrauchen, um eigene Herrschaftsinteressen durchzusetzen. Durch den Anschluß Nordwestdeutschlands an Frankreich und die Gründung des Rheinbundes mittlerer deutscher Staaten unter französischem Protektorat 1806 wurden die beiden deutschen Führungsstaaten an den östlichen Rand abgedrängt, 1806 legte Franz II. die Kaiserkrone nieder. Deutschland hatte aufgehört, ein Begriff der politischen Landkarte Europas zu sein. Allerdings brachte die napoleonische Reformpolitik einer Modernisierung von Recht und Verwaltung auch eine erneute innovative Herausforderung, auf die die von der Aufklärung geprägte Intelligenz in Deutschland positiv einging. Im Mittelpunkt der neuen Modernisierungsbewegung standen allerdings die vergrößerten deutschen Fürstenstaaten, nach dem Ende des Reiches schien allein im Landespatriotismus und einer Nationsbildung im deutschen Einzelstaat die Zukunft zu liegen.
Für eine erneute gesamtdeutsche Nationsbildung wurde es jedoch bedeutsam, daß die Bildungsschichten - vor allem in Preußen und Österreich - ihr patriotisches Engagement schon bald in den Dienst einer antinapoleonischen Bewegung stellten. Napoleons Kaiserkrönung 1804 (Verlassen der republikanischen Grundsätze) und seine Herrschaft über ganz Deutschland führte zu einem Umschlag der politischen Meinung in den Jahren um 1806. Vor allem der Rheinbund wurde zum Symbol des dem Fremdherrscher gefügigen Fürstentums, das Freiherr vom Stein „Sultanismus“ nannte. In der Enttäuschung über die Fürsten, die vielfach versuchten, sich mit den französischen Machthabern zu arrangieren, übernahmen die bürgerlichen Patrioten die politische Initiative, wandten sich den Volksschichten zu und schufen eine breite politische Bewegung, indem sie ihre nationalen Ziele mit dem landespatriotischen Widerstand gegen Napoleon verbanden. Vor allem in den beiden deutschen Großstaaten gelangten national orientierte Patrioten in die politische und militärische Führung: die Regierungen der Minister Stadion in Österreich (1805 - 1809), Stein und Hardenberg in Preußen (1807 - 1820) stellten ihre Reformprojekte konsequent in einen nationalen Zusammenhang.
Ende 1.Teil
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